530 Artikel 29, 30. Die Versammlungsfreiheit nach dem RVG.
III. Gewisse Versammlungen unterliegen nach dem RVG dem
Überwachungszwang und dem Auflösungsrecht (§s 13—16), d. h. sie
müssen sich die Überwachung durch einen oder zwei Beauftragte der
Polizeibehörde, denen ein angemessener Platz einzuräumen ist (§ 13),
gefallen lassen und können von diesen Beauftragten — aber nur aus
den im § 14 namentlich aufgezählten Gründen — aufgelöst werden,
mit der Wirkung, daß alle Anwesenden bei Strafe verpflichtet sind,
sich sofort zu entfernen (§ 16). — Welche Versammlungen hierher-
gehören, ist, nachdem die klare Vorschrift des Entwurfs (8 8):
„Die Polizeibehörde ist befugt, in jede Versammlung,
für die es einer Anzeige, Bekanntmachung oder Ge-
nehmigung bedarf, zwei Beauftragte zu entsenden."“
durch den Reichstag (auf den Antrag seiner Kommission) aus dem Text
entfernt und durch die undeutliche Wendung im § 13 Abs. 1 des Gesetzes:
„Beauftragte, welche die Polizeibehörde in eine öffentliche
Versammlung (§§ 5, 6, 7, 8, 9, 12) entsendet..“
ersetzt worden ist, nicht recht ersichtlich und sehr bestritten. Nimmt man
das in Klammern gesetzte Allegat wörtlich, so würde sich das Über-
wachungs- und Auflösungsrecht auf alle öffentlichen Versammlungen
erstrecken, die in den allegierten §§ 5, 6, 7, 8, 9, 12 erwähnt sind,
also z. B. auch auf Wählerversammlungen und Streikversammlungen,
welche nach § 6 Abs. 2, 3 nicht anzeigepflichtig sind, auf nicht ge-
nehmigungspflichtige Aufzüge, auf alle internationalen Kongresse (§ 12
Abs. 2) usw. Diese Meinung vertreten mehrere Kommentatoren des
RVG: Stier-Somlo 177, Müller-Schmid 143, Lindenberg 53, v. Sartor
135, Vossen, Reichsvereinigungsrecht 45 sowie das O in den beiden
Entscheidungen vom 24. Januar 1911, 58 288 ff., 303 f. Noch weiter
gehen die Urteile des R vom 28. April 1911, DJZ 16 992, des K#
vom 28. Juni 1910, DJZ 15 975, 976, des sächsischen OVG (D33 14
1096), des OL# Celle (Selbstv. 1910 313) und Loening a. a. O. 166.
welche alle öffentlichen Versammlungen ohne Ausnahme für über-
wachungspflichtig erklären.
Sowohl die letztere als auch die erste Ansicht dehnen den Kreis der
dem Uberwachungszwang unterworfenen Versammlungen zu weit aus.
Die Weglassung des oben angegebenen §& 8 des Entwurfs erfolgte nach-
weislich (vgl. Komm Ber 79) nicht zu dem Zwecke, um den Entwurf
sachlich zu ändern. Es darf auch angesichts der politischen Richtung,
welche bei der Beratung des RVG in der Kommission wie im Plenum
des Reichstags herrschte, nicht angenommen werden, daß man die
Machtbefugnisse der Polizei über das von der Regierung für ausreichend