Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

66 Die Eingangsformel. 
dadurch, daß seine Abänderung an die besonderen, erschwerenden Vor- 
schriften des Art. 107 gebunden ist, nur bezüglich der Formen, nicht 
aber bezüglich der Faktoren der Abänderung. Die Faktoren sind 
die ordentlichen Organe der Gesetzgebung, König und Landtag (Art. 62); 
eine besondere verfassungsgebende Gewalt neben und über der gesetz- 
gebenden besteht in Preußen so wenig wie sonst in Deutschland, viel- 
mehr sind nach Landes- und Reichsstaatsrecht Verfassungsgesetz und 
einfaches Gesetz Willensäußerungen einer und derselben, der gesetz- 
gebenden Gewalt. Vgl. unten bei Art. 107, sowie Meyer--Anschütz 564, 634; 
Anschütz, Enzykl. 607, 608. Die Verfassung steht nicht über der ge- 
setzgebenden Gewalt, sondern zur Disposition derselben. 
Insoweit ist die Verfassung in der Tat nur „ein Gesetz wie ein 
anderes“: Arndt in der DIJZ 4 447 und in seiner oben zitierten 
Schrift, 40. Wenn aber Arndt an der letztangeführten Stelle, den jungen 
Bismarck (Rede in der II. K., 24. Februar 1851) imitierend, die für 
die Verfassung in Anspruch genommene „Heiligkeit" bespöttelt, so muß hier- 
gegen Widerspruch erhoben werden, da dergleichen ironisierende Ergüsse, 
gleichviel, von wem sie beliebt werden, leicht dazu beitragen, „jener rechts- 
verachtenden Willkür Tür und Tor zu öffnen, welche . die gewichtigsten 
Vorschriften der Verfassung als gesetzgeberische Monologe betrachtet, an die 
sich niemand und insbesondere die gesetzgebenden Faktoren nicht zu kehren 
brauchen, — eine Auffassung, die seinerzeit im Verfassungsleben Preußens 
verwüstend gewirkt hat“. (Haenel, Studien z. Deutschen Staatsrecht 2 
329; vgl. auch Lasker, Zur Verfassungsgeschichte Preußens 9ff.). 
VI. Auch für die königliche Gewalt ist die Verfassung „Grund- 
gesetz“, und zwar sowohl im Sinne von „Schranke“ wie im Sinne von 
„Grundlage". Letzteres wird von Arndt, Komm. S. 55 verneint mit 
dem Hinweis daraus, daß nicht die Verfassung die königliche Gewalt, sondern 
die königliche Gewalt die Verfassung geschaffen habe. Dies ist historisch 
zweifellos richtig, wenigstens für die oktr V, deren Totalrevision die 
geltende Verfassung darstellt. Eben dadurch aber, daß der König die 
Verfassung „schuf“ und seine Rechte und Kompetenzen in die Verfassung 
aufnahm, hat er diese Rechte und Kompetenzen staatsrechtlich auf den 
Willen der Verfassung gestellt. Soweit die Kronrechte in der Verfassung 
kodifiziert sind — und dies ist tatsächlich in einem sehr weiten Umfange, 
in einem weiteren als meistens angenommen wird, geschehen — bildet die 
Verfassung auch Quelle und Grundlage der Kronrechte, regiert der König 
kraft der Verfassung, wobei es wiederum keinen Unterschied macht, ob 
die Verfassung das bestehende Recht der Krone nur aufzeichnet (vgl. z. B. 
Art. 46, 47) oder materiell neues Recht setzt (z. B. Art. 62, 63).
	        
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