78 Artikel 2. Völkerrechtliche u. staatsrechtliche Gültigkeit der Grenzveränderung.
ist Sache der vollziehenden Gewalt (Art. 45), Prärogative der Krone,
letztere Vorbehalt der Gesetzgebung. Der eine Akt involviert den andern,
derart, daß die Krone nach geschehenem völkerrechtlichen Erwerb nicht
berechtigt ist, die Annexion zu unterlassen, vielmehr verpflichtet ist, den
Landtag um seine Zustimmung zu der Annexion zu ersuchen, eine Pflicht,
von der die Regierung sich nicht entbinden kann, auch nicht durch die
Befürchtung, daß der Landtag das Annexionsgesetz ablehnen werde
(AM, unrichtig Arndt 58, 59). Rechtlich verpflichtet zur Zustimmung ist
der Landtag natürlich nicht, ebensowenig wie zur Annahme anderer Gesetz-
vorlagen oder ihm gemäß Art. 48 vorgelegter Staatsverträge. Verwirft
er das Annexionsgesetz, so bewendet es nunmehr nicht etwa bei dem
völkerrechtlichen Erwerb (der immer nur als vorbereitende Handlung, als
Mittel zum Zweck des staatsrechtlichen Erwerbs denkbar und zulässig ist); die
Regierung darf das betreffende Gebiet nicht behalten, sondern muß es
wieder aufgeben (eine Eventualität, die weder härter noch seltsamer ist
als diejenige, welche eintritt, wenn die Regierung einen von ihr bereits
ratifizierten Staatsvertrag gemäß Art. 48 dem Landtage zur Zustimmung
vorlegt, diese Zustimmung aber nicht erhält). Der Sinn des Art. 2 ist
nicht der, daß zwar zur Inkorporation neuer Landesteile ein Gesetz
notwendig, die Inkorporation selbst aber nicht notwendig ist,
sondern der, daß jede Neuerwerbung durch Akt der gesetzgebenden
Gewalt dem Staat inkorporiert werden muß. Lehnt die gesetzgebende
Gewalt die Inkorporation ab, so ist damit auch der völkerrechtlichen
Erwerbshandlung die Rechtsgrundlage entzogen; auf den Erwerb ist zu
verzichten, vorläufig bewirkte Vollzugsmaßregeln (Besitzergreifung) sind
rückgängig zu machen. Art. 2 ist eine zwingende Vorschrift, die nicht
dadurch umgangen werden darf, daß man ein Gebiet nur völkerrechtlich
erwirbt, ohne es staatsrechtlich zu besitzen, daß die Staatsregierung den
Konsens des Landtages zu der Annexion nicht einholt oder ihre Herr-
schaft in dem von ihr völkerrechtlich erworbenen Lande trotz Verweige-
rung des Konsenses tatsächlich aufrecht erhält.
Vorstehende Sätze ergeben sich als einfache Folgerungen aus dem
Prinzip der Einheit des Staates, seines Gebietes und seiner Verfassung.
Die Verfassung will, daß jede neue Gebietserwerbung dem Staate zu-
geführt und einverleibt, d. h., daß dort die preußische Staatsgewalt
in ihrer verfassungsmäßigen Gestalt aufgerichtet wird; Ab-
weichungen von dieser Regel sind möglich, aber nur im Wege der
Verfassungsänderung, nicht durch einseitiges Verhalten der Regierung.
Wenn die württembergische Verfassungsurkunde vom 25. Sept. 1819, 82
Abs. 1 vorschreibt: „Würde in der Folgezeit das Königreich einen neuen