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die Gresamtaktstheorie, die, von BINDING vorbereitet und von
KUNTZE weitergebildet!, es unternahm, den Anhängern der reinen
Tatsächlichkeit der Staatsschöpfung das Feld streitig zu machen.
Diese neue Theorie hat bei namhaften Schriftstellern Beifall ge-
funden. Selbst LaBAnD ? bekennt sich zu ihr, und FLEINER® hat
mit ihrer Hilfe die Entstehung des schweizerischen Bundesstaates
als einen Rechtsprozess erweisen wollen. Eine kurze Darstellung
der Kuntze’schen Theorie* und eine kritische Würdigung ihrer
Bedeutung für das Verstehen der Bundesstaatsschöpfung dürfte
‚des Interesses nicht entbehren.
Was ist der „Gesamtakt“ und inwiefern soll er die Lösung
des in Frage stehenden Problems geben?
Der Gesamtakt ist ein neuer Rechtsbegriff, dem KUNTZE
zur wissenschaftlichen Anerkennung verhelfen möchte. Seine
bisherige Abwesenheit soll eine empfindliche Lücke in unserem
dogmatischen Rechtssystem gelassen haben. Erscheinungen von
der allergrössten Tragweite lassen sich mit ihm erklären. Er
hat mit dem Vertrag gemein, dass auch er auf Vereinigung
mehrerer Willen zielt. Während jedoch dem Vertrag die Wil-
lensbindung spezifisch ist, eignet dies Moment dem Gesamt-
akt nicht. Im Willensinhalt ist das Kriterium zu suchen: der
Vertrag bezweckt regelmässig eine Rechtswirkung unter den Par-
teien, der Gesamtakt hingegen zielt auf eine Rechtswirkung ausser-
halb der Beteiligten. Diese stellen sich nicht wie die Vertrags-
parteien einander gegenüber, sondern neben einander. „Sie stehen
Studie über „Die Entstehung des belgischen Staates und des Norddeutschen
Bundes“, Heft 1 der „Abhandlungen aus dem Staats-, Verwaltungs- und VÖl-
kerrecht“, herausgegeben von ZORN und Stıeß-SomLo. Tübingen (Mohr). 1905.
i Vgl. darüber die sorgfältige Untersuchung von GLEITSMANN im Ver-
waltungsarchiv Bd. X S. 897 f£.
? Das Staatsrecht des deutschen Reiches. 4. Aufl. 1901. S. 32.
8 Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848.
Basel. 1898. S. 36 ff.
« Kunzze, Der Gesamtakt, ein neuer Rechtsbegriff. Leipzig. 1892. (Fest-
gabe für Otto Müller.)