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gegenüber der Wirklichkeit ein äusserst problematisches Dasein !.
Wie kann dieser Gemeinwille schöpferische Kraft besitzen, der
doch zum mindesten eine sehr starke Abstraktion ist? Und dann
ist gar nicht einzusehen, warum die angeblich bei dem Gesamt-
akte zu einem Willen verschmolzenen 22 Einzelstaatswillen nicht
nachher sich ebenso frei sollten lösen können, wie sie sich ver-
einigt haben sollen?. Der Einzelstaatswille ist doch keineswegs
untergegangen. Wenn nun jeder Einzelstaat als Parteigenosse
neben und mit den übrigen 21 Staaten gehandelt hat und, wie
KUNTZzE statuiert, dem Gesamtakt (als solchem) das Moment der
Willensbindung fremd ist®, wie ist es denn zu erklären,
dass mit dem Augenblick der Vollziehung des Gesamtaktes die
Einzelstaaten gebunden sind und zwar für immer? KUNTzE*
will dieses Gebundensein gründen auf freie Willenstat der Einzel-
staaten, durch die Tat ihrer Unterwerfung; der Errichtungsakt
sei erst dadurch unanfechtbar, das .neu errichtete Staatswesen
eine legitime Macht geworden, dass die Einzelstaatswillen sich
ihm unterwerfen — bis dahin war es in der Schwebe!
Danach wären also sämtliche Willensbetätigungen- des vom
1. Juli 1867 an tätig gewordenen neustaatlichen Willensträgers
Wilhelm I eine geraume Zeit anfechtbar gewesen. Denn erst
durch die Publikation der Zustimmung der Landesvertretungen
— genauer durch die letzte Publikation dieser Art — war nach
KunTze der schöpferische Gesamtakt vollendet. Wenn also einer
der Einzelstaaten, eine der Landesvertretungen, eine Anfechtungs-
erklärung abgegeben, dem. Beitritt des Staates zum Gesamtstaat
widersprochen hätte, so wäre damit die Rechtsgrundlage des
neuen Staatswesens eine „mangelhafte“ geblieben °.
Für das Dasein oder Nichtdasein der neuen Staatsgewalt ist
es aber völlig gleichgültig, ob sie vom Standpunkt irgend eines
! So MENZINaER in Krit. Viertelj. 1898, S. 595.
? JELLINEK, Allg. Staatslehre 8. 711.
8 KUNTZE S. 45. * Kuntzze S. 84, 85. 5 KUNTZE S. 84.