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bedürftig wie die Thesis, es ist eine Behauptung, für die kein
Beweis erbracht wurde und erbracht werden kann. So wird sie
denn von JELLINEK mit Recht als ein Satz des ius naturae,
nicht des positiven Völkerrechts bezeichnet!.
AnscHÜTZz ? verficht nach wie vor die rechtliche Konstruier-
barkeit der Staatsentstehung. Jener von JELLINEK als Naturrecht
charakterisierte Satz gelte positiv; denn er stehe im Völkerrecht
gewohnheitsmässig fest. Doch dies angerufene Gewohnheits-
recht ist durch einen allgemeinen Hinweis auf Bundesstaats-
schöpfungen und Staatenschöpfungen auf internationalen Kon-
gressen nicht dargetan. Durch eine blosse Abmachung unter meh-
reren Kongressmächten ist niemals ein neuer Staat faktisch ins
Leben getreten. Oder haben etwa jemals Kongressmächte staat-
liche Einrichtungen verwirklicht? Mit auf internationalen Kon-
gressen gesprochenen Worten ist die schöpferische Tat noch nicht
vollbracht; diese muss erst folgen. Auf die Ausdrucksweise der
betreffenden völkerrechtlichen Instrumente kommt es nicht an,
sondern einzig und allein auf den tatsächlichen Sachverhalt, der
für jeden Fall sorgfältiger Prüfung und genauen Nachweises bedarf®.
Wie wenig die Gesamtaktstheorie bei dem in Frage stehen-
den Problem den Tatsachen gerecht zu werden vermag, zeigt
sich insbesondere, wenn man die Gründungsvorgänge in der
Schweiz betrachtet: Wer, wie FLEINER, die Entstehung des
schweizerischen Bundesstaates durch einen Gesamtakt aller Kan-
tone erklären möchte und einen Zusammenhang zwischen dem
Rechte vor und seit 1848 finden will, verlässt den Boden der
Wirklichkeit und konstruiert unzweifelhaften Tatsachen entgegen.
Bis zum Jahre 1848 standen die 22 souveränen Kantone
in einem völkerrechtlichen Vertragsverhältnisse zu einander; sie
ı JELLINER, Allg. Staatsl. S. 711.
2 Lehrbuch des deutschen Staaterechts von GEORG MEYER, nach dem
Tode des Verfassers in sechster Auflage bearbeitet von GERHARD ANSCHÜTZ,
S. 180.
® Vgl. meine angeführte Studie, S. 29.