Metadata: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Das Denisqhe Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 11.) 123 
Preußischer Kriegsminister v. Heeringen: Die allgemeinen Be- 
stimmungen über die Behandlung von Mitbürgern jüdischer Konfession sind 
dieselben geblieben wie früher. Auf ihre Ausführung wird streng geachtet. 
Herr Gothein hätte mir, wie Dr. Müller. sein Material vorlegen sollen, 
dann würde es gründlich untersucht werden. An einzelnen Stellen mag 
eine durchaus nicht gerechtfertigte Abneigung gegen jüdische Einjährige 
vorhanden sein. Aber das ist nicht alles. Zum Offizier gehören nicht nur 
Können, Wissen und Charakter, wir müssen auch verlangen, daß die ganze 
Persönlichkeit, die vor die Front ktritt, Achtung gebietend ist. Der Mann 
muß Autorität haben. Es liegt mir fern, etwa grundsätzlich behaupten zu 
wollen, daß das bei den jüdischen Mitbürgern nicht der Fall wäre. Wir 
dürfen aber nicht in Abrede stellen, daß bei unseren niederen Volksschichten 
hier und dort eine andere Auffassung besteht. Dieser müssen wir Rechnung 
tragen. Darum müssen wir die ganze Frage vorsichtig behandeln. Trotz 
aller Leistungen, die ich vollkommen anerkenne, müssen wir uns auch bei 
den jüdischen Einjährigen fragen, ob ihre Persönlichkeit geeignet ist, die 
Autorität unter allen Umständen vor der Front zu sichern. Die vielen 
Anzapfungen, die in Bezug auf die Parteilichkeit unserer niederen Vor- 
gesetzten gemacht werden, haben schon dazu geführt, daß bei den Truppen 
Führungslisten über die Wochenleistungen der Einjährigen angelegt sind. 
Sie geben manchmal ganz andere Urteile, als die jungen Herren für sich 
in Anspruch nehmen. Die Wahl zum Reserveoffizier liegt durchaus im 
freien Ermessen der Offizierkorps. Der Kaiser lehnt es ganz ab, und ich 
stimme ihm durchaus bei, in diese freie Bestimmung einzugreifen. Gerade 
die Linke sollte doch mit diesem geradezu demokranschen Grundzug im 
Heere einverstanden sein. Diese freie Wahl hat eine weitgehende Bedeutung, 
die Sie vielleicht nicht ganz schätzen. Ich kann in voller Uebereinstimmung 
mit meinem Vorgänger erklären, daß, wenn ein jüdischer Vizefeldwebel 
oder Wachtmeister von einem Offizierkorps vorgeschlagen würde, der Kaiser 
ihn auch ohne weiteres befördern würde. Das ist kein Stoßseufzer. Auch 
die Anspielung auf den Grund des Scheidens meines Vorgängers war 
versehlt. Wenn man sechs Jahre Kriegsminister gewesen ist, hat man wohl 
die Berechtigung von diesem Posten abzutreien. 
Abg. Mugdan (Fr. BVp.): Alles, was der Kriegsminister sagt, wird 
durch die einzige Tatsache widerlegt, daß seit 1880 überhaupt kein einziger 
jüdischer Einjähriger Offizier geworden ist. Da werden auch der Kriegs- 
minister oder die Herren dort auf der rechten Seite nicht etwa behaupten 
wollen, daß in diesen 28 Jahren nicht ein einziger jüdischer Einjähriger 
gedeent haben sollte, der die Befähigung gehabt hätte, Vorgesetzter zu 
werden. 
11. Februar. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Fort- 
setzung der Wahlrechtsdebatte. 
Abg. Herold (3.): Der Gesetzentwurf entspricht unseren Ansichten 
zu unserem Bedauern nicht. Daß er keine Neueinteilung der Wahlkreise 
enthält, ist ein Vorteil. Für die Bemessung der Wahlkreise darf nicht allein 
die Bevölkerungszahl maßgebend sein; es ist auch die Tradition und die 
historische Entwicklung zu beachten, desgleichen die räumliche Ausdehnung. 
Die Provinzen Ostpreußen. Schleswig-Holstein und andere haben weniger 
Einwohner als Berlin, und dennoch ist es gerechtfertigt, daß sie eine größere 
Anzahl von Abgeordneten haben. Das schließt aber nicht aus, daß in 
Zukunft bei allzu starker Verschiebung der Verhältnisse doch wieder eine 
Neueinteilung der Wahlkreise notwendig wird. Nachdem aber seit 1860 
mehrfache Vermehrungen der Wahlkreise stattgesunden haben, liegt gegen-
	        
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