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lediglich abwehrenden Normen in der Einheit der Rechtsordnung nicht,
Aber diese Asymmetrie der wissenschaftlichen Stoffbehandlung, die jedem
mit Kennerblick Schauenden in die Augen fallen muss, ist nicht einem Ver-
sehen des gelehrten Verfassers aufs Kerbholz zu setzen: sie ist ein Erbübel
unserer gesamten Völkerrechtsliteratur der neueren Zeit. Weite ergiebige
Strecken unverkennbar wirksamen, ertragsreichen Verkehrslebens bleiben
völlig unbeachtet von der Disziplin, obgleich der moderne Wirtschaftsbe-
trieb ohne sie gar nicht mehr denkbar ist: Grenzrecht, Freilagerwesen,
Identitätsnachweis, Rechtslage der reisenden Kaufleute, Firmen-, Namens-
und Adelskontrolle, Steuerrecht und Doppelbesteuerung, Börsen- und An-
leihewesen, Eisenbahn- und Transportrecht, Exportprämie, Volks- und Be-
rufszählung etc. — die Liste kann beträchtlich verlängert werden —, all
diese Rechtsinstitute bleiben ausserhalb der systematischen Einheit,
obwohl das „System* doch die szenische Illusion einer erschöpfenden Dar-
stellung der Wirklichkeitswerte bieten soll. Dafür muss aber eine Reihe
konventioneller Unfruchtbarkeiten, wie die völlig abgegraste Materie der
Grundrechte, der Staats- und Fürstentitel der Rangverhältnisse der Staaten
u. v. a. im Interesse der „Vollständigkeit“ nicht jenseits des Rahmens ge-
lassen werden. OPPENHEIM empfindet diesen ihm durch die verkehrte Tra-
dition auferlegten Zwang an vielen Stellen seines lichtvollen von nüchterner
Klarheit diktierten Buches, aber er kann sich der vis maior nicht entziehen.
Er durfte sein jabrelanges mühevolles Schaffen nicht „lückenhaft* auf den
Tisch des Hauses niederlegen, so lange die Legende nicht überwunden ist,
dass ein System des Völkerrechts im Kontor des Kaufmanns und der
grossen finanziellen Unternehmung entbehrlich, aber unerläss-
lich nur im knappen Arbeitsraum diplomatischer Missionen sei. Solange
unsere Zeit im Banne dieser Zwangsvorstellung lebt, wird jedes nach Voll-
ständigkeit strebende Völkerrechtslehrbuch oder -Handbuch das Bild jener
Asymmetrie bieten, besonders zu gunsten des Kriegsrechts, dessen Quellen-
material in den langwierigen Verhandlungen und den redseligen Beschlüssen
der Haager Friedenskonferenz bequemer zur Hand liegt, als das erst schwer
zu ermittelnde des im Wachsen begriffenen internationalen Handels- und
Wirtschaftsverkehrsrechts. OPPENHEIM erkennt übrigens mit voller Sach-
kenntnis diesen Drang unserer Lehre nach neuen Horizonten und wird
sicherlich in weiteren Auflagen seines Werkes, die wir erhoffen, den be-
zeichneten modernen Materien angemessen weitern Raum gewähren. Er
hat aber an vielen anderen Stellen juristisch bedeutungsvolle Fragen gründ-
licher behandelt als dies andere Autoren zu tun für notwendig fanden; so
das schwierige Thema von. der völkerrechtlichen Haftpflicht des Staates,
das hier zum erstenmal im System in sachlicher Gliederung vorgetragen
ist. Gebietsrecht, Personenrecht, die Lehre von den völkerrechtlichen Ma-
gistraturen enthalten neben der korrekten, der Erfassung der juristischen
Seite des Problems zugewandten Darstellung gewissenhaftes Eingehen auf