Full text: Archiv für öffentliches Recht. Zwanzigster Band. (20)

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lediglich abwehrenden Normen in der Einheit der Rechtsordnung nicht, 
Aber diese Asymmetrie der wissenschaftlichen Stoffbehandlung, die jedem 
mit Kennerblick Schauenden in die Augen fallen muss, ist nicht einem Ver- 
sehen des gelehrten Verfassers aufs Kerbholz zu setzen: sie ist ein Erbübel 
unserer gesamten Völkerrechtsliteratur der neueren Zeit. Weite ergiebige 
Strecken unverkennbar wirksamen, ertragsreichen Verkehrslebens bleiben 
völlig unbeachtet von der Disziplin, obgleich der moderne Wirtschaftsbe- 
trieb ohne sie gar nicht mehr denkbar ist: Grenzrecht, Freilagerwesen, 
Identitätsnachweis, Rechtslage der reisenden Kaufleute, Firmen-, Namens- 
und Adelskontrolle, Steuerrecht und Doppelbesteuerung, Börsen- und An- 
leihewesen, Eisenbahn- und Transportrecht, Exportprämie, Volks- und Be- 
rufszählung etc. — die Liste kann beträchtlich verlängert werden —, all 
diese Rechtsinstitute bleiben ausserhalb der systematischen Einheit, 
obwohl das „System* doch die szenische Illusion einer erschöpfenden Dar- 
stellung der Wirklichkeitswerte bieten soll. Dafür muss aber eine Reihe 
konventioneller Unfruchtbarkeiten, wie die völlig abgegraste Materie der 
Grundrechte, der Staats- und Fürstentitel der Rangverhältnisse der Staaten 
u. v. a. im Interesse der „Vollständigkeit“ nicht jenseits des Rahmens ge- 
lassen werden. OPPENHEIM empfindet diesen ihm durch die verkehrte Tra- 
dition auferlegten Zwang an vielen Stellen seines lichtvollen von nüchterner 
Klarheit diktierten Buches, aber er kann sich der vis maior nicht entziehen. 
Er durfte sein jabrelanges mühevolles Schaffen nicht „lückenhaft* auf den 
Tisch des Hauses niederlegen, so lange die Legende nicht überwunden ist, 
dass ein System des Völkerrechts im Kontor des Kaufmanns und der 
grossen finanziellen Unternehmung entbehrlich, aber unerläss- 
lich nur im knappen Arbeitsraum diplomatischer Missionen sei. Solange 
unsere Zeit im Banne dieser Zwangsvorstellung lebt, wird jedes nach Voll- 
ständigkeit strebende Völkerrechtslehrbuch oder -Handbuch das Bild jener 
Asymmetrie bieten, besonders zu gunsten des Kriegsrechts, dessen Quellen- 
material in den langwierigen Verhandlungen und den redseligen Beschlüssen 
der Haager Friedenskonferenz bequemer zur Hand liegt, als das erst schwer 
zu ermittelnde des im Wachsen begriffenen internationalen Handels- und 
Wirtschaftsverkehrsrechts. OPPENHEIM erkennt übrigens mit voller Sach- 
kenntnis diesen Drang unserer Lehre nach neuen Horizonten und wird 
sicherlich in weiteren Auflagen seines Werkes, die wir erhoffen, den be- 
zeichneten modernen Materien angemessen weitern Raum gewähren. Er 
hat aber an vielen anderen Stellen juristisch bedeutungsvolle Fragen gründ- 
licher behandelt als dies andere Autoren zu tun für notwendig fanden; so 
das schwierige Thema von. der völkerrechtlichen Haftpflicht des Staates, 
das hier zum erstenmal im System in sachlicher Gliederung vorgetragen 
ist. Gebietsrecht, Personenrecht, die Lehre von den völkerrechtlichen Ma- 
gistraturen enthalten neben der korrekten, der Erfassung der juristischen 
Seite des Problems zugewandten Darstellung gewissenhaftes Eingehen auf
	        
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