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der Entwurf zum Zweck der Sanktion an den Bundesrat zurück-
gehe.
LABAND® hat dem mit der Begründung widersprochen, daß
dem ersten Beschluß gewöhnlich eine eingehende Beratung über
die Einzelheiten des Gesetzesentwurfes vorhergehe, weshalb er
nicht nur als ein Beschluß aufgefaßt werden könne, den Reichs-
tag zu veranlassen, daß er sich mit dem Entwurf beschäftigen
möge. Auch biete die Reichsverfassung keinen Anhalt, eine so
schwerwiegende Verschiedenheit zwischen den Beschlüssen des
Bundesrates und Reichstages anzunehmen.
Darauf ist zu erwidern, daß die Reichsverfassung diesen An-
halt allerdings bietet, insofern sie im Art. 7 Ziff. 1 dem Bundes-
rat das Recht gibt, tiber die von dem Reiclıstag gefaßten Be-
schlüsse zu beschließen ®, woraus sich die oben besprochene Er-
scheinung sehr einfach erklärt: Wenn einem gesetzgebenden Or-
5 Staatsrecht des Deutschen Reichs, 5. Aufl. Bd. II, S. 34.
® ROSENBERG, Annalen des Deutschen Reichs 1900, S. 589; GIERKE in
Grünhuts Zeitschrift Bd. 7, S. 230 und Deutsches Privatrecht I, $ 18, Note 11;
KoLgow, Das Veto des Deutschen Kaisers, Archiv für öffentl. Recht V,
S. 97, 99 lehnen die Existenz eines Sanktionsrechts des Bundesrats ab, teil-
weise unter Hinweis auf die historische Entstehung des Art. 7, Ziff. 1 RV.
Demgegenüber sei auf folgendes hingewiesen: Bundesrat und Reichstag
sind darüber einig, daß ein vom Bundesrat ausgegangener Gesetzes-
entwurf durch die unveränderte Annahme im Reichstage nicht zum Gesetz
wird, sondern an den Bundesrat zum Zweck der letzten Abstimmung zu-
rückgeht. Diese vom Bundesrat durch Jahrzehnte angewandte Uebung, der
vom Reichstag nie wiedersprochen wurde, muß um so ınehr als zu Recht
bestehend anerkannt werden, als Bundesrat und Reichstag das Recht be-
sitzen, die Verfassung des Reichs abzuändern. Es ist also lediglich eine
Formsache, daß dieses Recht des Bundesrates auch in der Verfassung unter
der ausdrücklichen Bezeichnung „Sanktion* niedergelegt wird. Die Sach-
lage ist hier ähnlich wie in dem Falle, wo durch die Erlassung eines
Reichsgesetzes die Zuständigkeit des Reichs erweitert wird, ohne daß vor-
her die Kompetenzerweiterung durch ausdrückliche Abänderung des Art. 4
d. RV. ausgesprochen wird. Die Gültigkeit der unter diesen Umständen er-
lassenen Gesetze, demnach auch die Gültigkeit der Verfassungsänderung
selbst, wird überwiegend anerkannt. Vgl. GrorG MiYER-ANSCHUTZ, Staats-
recht, 8. 587.