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der Staatsrechtslehre aus der Entstehungszeit der Verfassung mißglückt
ist. Es ist dort von dem „Aufsichts- und Verwaltungsrecht“ des Lander-
herrn die Rede. Verf. geht von der an sich richtigen Erwägung (W.SCHoEn-
BORN, Das Oberaufsichtsrecht des Staates im modernen deutschen Staats-
recht 1906) aus, daß im heutigen Staatsrecht kein anderes Aufsichtsrecht als
besondere staatliche Funktion denkbar ist, als das gegenüber den dem Staate
unterstehenden autonomen Körperschaften. Die hessische Verfassung ist aber
nicht aus der heutigen Staatsrechtslehre geboren, sondern der der ersten
Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts. Und diese kennt ein Aufsichtsrecht nur
in dem einen einzigen und umfassenden Begriffe der suprema inspectio,
die gerade in jener Zeit, wie mir scheint, eine größere Rolle spielt denn
je vorher (vgl. z. B. KLüßeEr, StR. des Rheinbundes 1908 S. 322 ff. und StR.
des deutschen Bundes 1817 S. 444 ff, sowie N. Ta. GÖNNER, Teutsches
Staatsrecht 1804 S. 446 ff.). Nichts anderes als diesen feststehenden Begriff
des älteren deutschen Staatsrechts („Kenntnis der Kräfte des Staates, Auf-
merksamkeit auf dasjenige, was im Staate mit Einfluß auf den öffentlichen
Zustand vorgeht, Wachsamkeit über alle Staatsbehörden und Anstalten‘.
GÖNNER 2.8.0. 422) in dem allerdings die Aufsicht über die Selbstver-
waltungskörper, aber ebenso (was Verf. verneint) die Dienstaufsicht ent-
halten ist, kann die Verfassung mit dem Worte „Aufsichtsrecht“ gemeint
haben und zur Anwendung bringen wollen. Nur so gibt der Artikel 73:
„Der Großherzog ist befugt, ohne ständische Mitwirkung, die zur
Vollstreckung und Handhabung der Gesetze erforderlichen, sowie die
aus dem Aufsichts- und Verwaltungsrecht ausfließenden Verordnungen zu
treffen... ..
einen einheitlichen Sinn und wird auch (die nach van CALKERSs Auslegung
ganz unerklärliche) Voranstellung des Aufsichtsrechts vor das Verwaltungs-
recht verständlich: es sollte dem Fürsten sein altes jus supremae inspec-
tionis als das „Erste und allgemeinste Regierungsrecht“ in jeder Richtung
erhalten bleiben. Nicht nur das; es wurde damit auch zugleich eine prin-
zipielle Streitfrage der älteren Staatsrechtslehre positivrechtlich entschie-
den, nämlich die, ob zur Ausübung des landesherrlichen Aufsichtsrechtes
„die Concurrenz der Landstände erforderlich sey, oder nicht“? (Vgl.
HABERLIN, Handbuch des teutschen Staatsrechts 2. Aufl. 1797 Bd. 2 S. 147;
nach PÜTTER, Institutiones 238 und dem unmittelbar auf seinen Gedan-
ken aufgebauten Werke HÄBERLINs a. a. O. kommt es auf den Gegenstand
der Aufsicht an, ob in dessen Regelung die Landstände ein Mitwirkungs-
recht haben oder nicht; GÖNNER a. a. O. 449 verneint schlechthin die „Kon-
kurrenz der Landstände‘“.) Denn — das darf nicht vergessen werden — die
vom Wiener Kongreß inspirierte offizielle Staatsweisheit jener Zeit wollte.
wenn schon praktisch Konzessionen an den Konstitutionalismus nicht zu um-
gehen waren, diese doch im Prinzip wenigstens immer nur als Fortsetzung der
ständischen Einrichtungen des früheren Rechts — gerade für Hessen werden