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gehen wollen, unvereinbar sein mit der Aufrechterhaltung eines passiv-
neutralen Verhaltens durch die Regierung Ihrer Majestät.“
Fürst Gortschakoff antwortete aber entgegenkommend, und der russisch-
türkische Krieg brachte keinerlei Störung im Suezkanal.
Durch diese Vorkommnisse veranlaßt griff noch in demselben Jahr
(1877) das Institut de droitinternational die Suezkanalfrage
auf. In den vorbereitenden Schriftsätzen wurde der Gedanke festgehalten,
daß der Suezkanal dem Kriegsrecht entzogen sein müsse, Für den Fall,
daß die Türkei in einen Krieg verwickelt würde, sollte nach BLUNTSCHLI
nur den Kriegs- und Transportschiffen des Feindes, aber nach dem Bericht-
erstatter Travers Twiß, der sich an den Clayton Bulwer Vertrag von 1850
(über den Panamakanal) anlehnte, allen Schiffen des Feindes die Durch-
fahrt verwehrt sein. Neben vielem andern bot schon die Grundfrage
Schwierigkeit: Neutralisation oder Protektion? Bei den großen Meinungs-
verschiedenheiten endigte die zweijährige Verhandlung (1878/9 mit der
mageren Resolution, es möge die Erhaltung und Benützung des Suezkanals
im Krieg wie im Frieden sowie die Ersatzpflicht für Beschädigungen ver-
tragsamäßig festgelegt werden.
Im Jahr 1882 vollzog sich das Schicksal Aegyptens. Infolge der unter
dem Khediven Mohammed-Taufik einsetzenden nationalen Bewegung bom-
bardierte der Admiral Seymour Alexandrien und benutzte in dem vom
Zaun gebrochenen Streit mit der Regierung des Khediven das untätige Ver-
halten Frankreichs, welch letzteres jetzt seine Vormachtstellung voll-
kommen einbüßte, in vollendeter Heuchelei dazu, sich als „Mandatar von
Europa® aufzuspielen; Aegypten wurde besetzt und der Widerstand der
ägyptischen Truppen gebrochen. Die bald darauf in Konstantinopel zu-
sammentretende Konferenz hatte für Aegypten das Prinzip des „desinteresse-
ment“ verkündigt; und unter der Schutzdecke dieses Schlagwortes hat
sich die englische Politik, welche nicht aufhörte, den wohlwollenden und
bloß vorübergehenden Charakter der Besetzung zu betonen, in Aegypten
für die Dauer häuslich eingerichtet.
Das Jahr 1883 brachte Bemühungen Englands um die vertragsmüßige
Regelung der Kanalfrage, die anscheinend schlecht in den Rahmen der
englischen Politik passen. Aber die englische Regierung hielt es wohl für
weraten, den Anträgen Dritter zuvorzukommen und den Gegnern den Wind
aus den Segeln zu nehmen. England gebührte auf diese Weise nicht bloß
das Verdienst der Anregung, sondern ihm fiel auch das nicht zu unter-
schätzende Recht der grundlegenden Formgebung zu. Allerdings ist der
englischen Politik nichts so sehr verhaßt wie die eigene Bindung. Aber
die englische Diplomatie besitzt von alters her die Meisterschaft, sich aus
selbstgeschaffenen Fesseln wieder zu befreien und das Obligatorium den
anderen zu überlassen. Diese Frage konnte also vorerst ruhig zurückge-
stellt werden.