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zeitig aus wissenschaftlichen und praktischen Gründen — vor-
sichtig zu Werke gehen, und auch bedenken, daß die moderne
Rechtswissenschaft jeder Erscheinung frei und unbefangen gegen-
übertritt, und die Annahme eines Rechtsbegrifis nicht um des-
willen schlechthin ablehnt, weil ein einzelnes Moment — wie die
Erzwingbarkeit der Vorschriften — entfällt. Es gibt auch
im Gebiet der modernen Rechtswissenschaft Spielarten und Ueber-
gangsformen. Dazu kommt, daß es auch sonst im römischen
und im modernen Recht Ansprüche und Verbindlichkeiten gibt,
die sich aus irgendwelchen Gründen nicht erzwingen lassen.
Es ist nur natürlich, wenn in unserer großen Kriegszeit auch
die internationale Rechtsordnung in ihren Fugen bebt, und wenn
auch auf diesem Gebiete die Zeit zur Entscheidung wichtiger
Fragen drängt, so nach der Lösung der längst hemmenden und
läbmenden Frage, vb es ein wahres Völkerrecht gibt. Wenn
schon lange vor dem jetzigen Krieg Männer wie Moltke — Ge-
sammelte Schriften, Bd. 5, S. 194 f. — dem „Völkerrecht“ die
Rechtsnatur aberkannt haben, weil der Vollzug seiner Normen
nicht erzwingbar sei, so läge es nahe, gerade nach den Erfah-
rungen des jetzigen Kriegs endgültig den Stab über den Bestand
eines „Völkerreehts mit wahrer Rechtsnatur* zu brechen. Von
rechtsgelehrter Seite wird aber der Leugnung eines Völkerrechts
entschieden entgegengetreten und gerade jetzt — zur geeignetsten
Zeit — im humanitären und im allgemein-kulturellen Interesse dem
Bestand eines wirklichen Völkerrechts freie Bahn und rechtswissen-
schaftliche Stütze. geboten.
Auch in dieser Beziehung kann jetzt von einem „Beruf unserer
Zeit“ gesprochen werden.
Diese Frage darf im Rahmen der vorliegenden Schrift kurz
gestreift werden, da ja auch im Völkerrecht von öffentlichen Ver-
sorgungswesen im Zusammenhang mit dem Krieg vielfach die Rede
ist. Es wird sich dabei besonders um den Rechtsbestand und den
Rechtscharakter des „ Völkerrechts“ überhaupt, um das Recht des