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hervorgeholt und entwickelt wurde, als dem Ausgangspunkt des nach-
folgenden ErmGes. gerecht. Hinter der einstigen ungemessenen Trag-
weite des Polizeibegriffes vielleicht zurückbleibend, aber doch die üb-
liche Maße des Rechts- und Gesetzesstaates weit überholend, liegt es
stillschweigend auch der Praxis des österr. sowie des deutschen Reichs-
ernährungsamtes zugrunde, wenn dieses für den Reichskanzler handelt
(vgl. oben im ersten Aufsatze S. 40f.). Aber ein Anachronismus, ein Ge-
spenst am hellen Tage, bleibt diese alte oder neue Polizeiverordnung
doch und es fehlt ihr daher der rechte Glaube trotz aller Duldung in
der Theorie!!. Ein stofflicher Gegensatz ist zwischen ihr und der dekla-
rierten Notverordnung — wenn man etwa von der „Macht, bestehende
Gesetze“ zu brechen, absieht — kaum zu entdecken, es zeigt sich
höchstens ein rein empirischer Gradunterschied nach der vermeintlichen
Bedeutung der Materie, der übrigens mit zunehmendem Schwunge in
der Handhabung dieses Polizeiverordnungsrechtes von selbst zerfließen
mußte. Ob bestehende Gesetze formell unmittelbar getroffen werden
oder nicht, ist ja reinste Zufallssache und praktisch nicht so bedeutsam
wie in der Staatspraxis angenommen wird. Sind doch die einschnei-
dendsten Eingriffe ohne ausdrückliche Abänderung bestehender Gesetze
möglich. Ist dies aber der Fall, dann wird ihr das gleiche zugemutet
wie der Notverordnung. Vor dem ErmGes. ging es noch über ihre
Kraft, heute trifft sie es von der Gnade des Gesetzes, da sie logisch in
denselben Rang erhoben wurde. Diese innerste Verwandtschaft mit der
Notverordnung, um nicht mehr zu sagen, wurde auch in der deutschen
und österr. Gesetzgebung wahrgenommen und durch die Vorlage-
pflicht mittelbar — ganz im Sinne des hier (oben S. 50f.,54 f.) vertretenen
ı Vgl. z. B. MeEyEr-Anscattz (Lehrbuch des deutschen Staatsrechts
VII. Aufl., zweiter Teil S.672), wo unter den Rechtsverordnungen außer den
Ausführungsverordnungen und den freilich nur formell verstandenen Not-
verordnungen auch noch die Polizeiverordnungen vorüberziehen. Uebrigens
zeigt sich (ebenda S. 709) bereits ein angemessen erweiterter Begriff der
Notverordnung für die Kriegszeit.. WALDECKER, Kriegsrechtl. Allerlei
(Annalen des Deutschen Reiches 1914) erkennt zwar im deutschen ErmGes.
den „Notverordnungsparagraph‘“ für das Reich, dessen formelle Tragweite
er gewiß übertreibt, geht aber nicht weiter und kommt nicht auf die übri-
gens in jenem Zeitpunkt noch nicht entwickelte Filiation. Ueber diese
und ihre verschiedenen Richtungen gibt wieder SCHIFFER (Deutsche Juri-
stenzeitung XX, bes. S. 235 f.) eine für den jeweiligen Inhalt bezeichnende
vortreffliche Uebersicht, aber ohne nähere staatsrechtliche Würdigung.