Full text: Archiv des öffentlichen Rechts. 37. Band. (37)

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staat die Anerkennung versage; aus der Anerkennung eines Staates von 
seiten der Großmächte ergäben sich ohne weiteres für alle Staaten der Ge- 
meinschaft Völkerrechtspflichten gegen den neuen Staat. Ueberhaupt, die 
tatsächliche Stellung der Großmächte innerhalb des Staatensystems ent- 
kräfte die Lehre von der Gleichheit der Staaten. Diese Lehre habe nie 
der Wirklichkeit entsprochen, sondern stamme aus der naturrechtlichen 
Völkerrechtswissenschaft. Europa stehe unter einem gemeinsamen Herrscher, 
das sei der Verband der führenden Staaten (S. 157 mit Hinweis auf 
LAWRENCE). Und dann folgt zum Beleg eine Aufzählung autoritativer Ent- 
scheidungen der Großmächte von der Errichtung des Königreichs Griechen- 
land bis zum Bukarester Frieden und zur Gründung Albaniens (S. 158 wieder 
mit Berufung auf LAWRENCE). 
Die Tatsachen, die der Verfasser anruft, sollen nicht geleugnet werden. 
Aus der Ideenwelt der Pentarchie und der Heiligen Allianz ist eine wichtige 
Vorstellung bis auf unsere Zeit gekommen: Es ist die Vorstellung, daß die 
Mächte berufen sind, die Geschicke der kleinen Völker zu regieren, daß 
sie einen Titel zur Intervention besitzen. Es ist die Theorie von einem 
aristokratischen Imperialismus, Es ist die Theorie vom Europäischen Konzert, 
Fürwahr, die Politik des neunzehnten Jahrhunderts hat gar oft dieser 
Doktrin entsprochen. 
Soll aber das Völkerrecht durch diese Tatsachen erklärt, soll es 
auf die Autorität einiger mächtiger Staaten zurückgeführt werden, so löst 
es sich auf in ein nebelhaftes Gebilde. Welches sind die Staaten, die ge- 
meinsam in der Welt befehlen können ? Darauf ist eine Antwort unmöglich. 
Denn sind auch oft Machtsprüche gefallen, so war es doch nicht immer 
die gleiche Konstellation von Staaten, die sich berrschend erhob. Huldigt 
man also der Doktrin des Verfassers, so wird das Völkerrecht zu einer fluk- 
tuierenden Macht wie die Sitte; es ist nicht mehr Recht, weil es nicht von einem 
fest bestimmten Willen gesetzt wird, es ist nur noch Konventionalnorm. Das 
ist auch das Ergebnis, zu dem der Verfasser gelangt. Das Völkerrecht ist ihm 
kein Recht wegen der Unbeständigkeit der Macht, die hinter ihm steht. Der 
Krieg, sagt der Verfasser, bringt dafür einen handgreiflichen Beweis: „Wenn 
ein Krieg zwischen wesentlichen Teilen entbrennt, so ist damit die Macht, 
die hinter dem sogen. Völkerrecht steht, selbst in Frage gestellt. Nament- 
lich im Fall eines Krieges zwischen Großmächten oder gar zwischen Gruppen 
von Großmächten gerät diese Macht entweder ins Schwanken, oder sie fällt 
ganz und gar um. Sobald die Großmächte ernstlich uneinig sind, hört die 
Völkerrechtsgemeinschaft beinahe auf, zu sein® (S. 162). 
Ich meine, der Verfasser richtet damit selbst seine Tkeorie. Wenn das 
Völkerrecht eins ist mit der politischen Tatsache, daß einige Mächte sich 
zusammentun, gemeinsam befehlen und die Befolgung ihres Willens durch- 
setzen, so ist das ein Phänomen, das mit dem Völkerrecht nichts mehr zu 
tun hat. Es geht nicht an, durch eine begriffliche Konstruktion a priori
	        
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