— 129 —
wenn die Nothwendigkeit einer solchen Beschränkung sich aus dem un-
zweifelhaften Grunde jener Bestimmung oder aus dem sonstigen Inhalte der
Gesetze ergebe. Von einer solchen Nothwendigkeit der Beschränkung des
Verbots auf den Bezug von Entschädigungen aus öffentlichen Kassen
ex ratione legis könne hier nicht die Rede sein. Im Gegentheil — der
offenbare Grund und Zweck des Art. 32 wäre der, ein Gegengewicht zu dem
durch Art. 20 eingeführten, allgemeinen und direkten Wahlsystem zu schaffen.
Das dort gewährte allgemeine Wahlrecht sollte wieder eingeschränkt wer-
den. Diesem Grunde und Zwecke des Art. 32, das passive Wahlrecht zu
beschränken, habe es offenbar mehr entsprochen, wenn schlechtweg jede
Entschädigung zu beziehen verboten wurde, als wenn das Verbot lediglich
auf den Bezug einer Entschädigung aus öffentlichen Kassen eingeschränkt
worden wäre. Nicht anders stehe die Sache hinsichtlich des sonstigen In-
halts der Reichsverfassung. Auch dieser spreche nicht für eine Einschrän-
kung des Art. 32 im Sinne des Beklagten, sondern umgekehrt für die An-
nahme des Verbots jedweder Entschädigung. Der Berufungskläger habe
ganz recht, wenn er zur Unterstützung seiner Behauptung, dass durch Art. 32
auch der Bezug von Diäten aus Parteimitteln ausgeschlossen werde, auf
Art. 29 der R.-Verf. Bezug nimmt, welcher bestimme: „Die Mitglieder des
Reichstages sind Vertreter des gesammten Volkes und an Aufträge und In-
struktionen nicht gebunden‘. Hieraus ergebe sich klar, dass es die Ab-
sicht des Gesetzgebers gewesen, dass der Abgeordnete bei Ausübung der
parlamentarischen Rechte lediglich seine eigene freie Ueberzeugung walten
lassen solle. Nun könne es aber nicht zweifelhaft sein, dass ein Abgeord-
neter unendlich freier und unabhängiger dastehe, wenn er eigenes Vermögen
besitzt und ohne Bezug privater Besoldung oder Entschädigung sein Votum
im Reichstage abgibt, als wenn er in Betreff seiner Existenz in Berlin ab-
hängig ist von der Geldunterstützung seiner Wähler oder sonstigen Partei-
genossen. Jeder Wähler, der nur den kleinsten Betrag beigesteuert, um
die Diäten der Abgeordneten zu bezahlen, habe, wie der Abgeordnete
v. STAUFFENBERG in der Sitzung vom 26. März 1873 zutreffend bemerkte, das
Gefühl, dass der Abgeordnete ein persönlich von ihm bezahlter Mandatar
sei, und noch viel schlimmer sei es, wenn die Partei die Diäten be-
zahle; dann verkaufe sich der Abgeordnete durch die Annahme eines Man-
dats gewissermassen an seine Partei°). Es bedürfe keiner Ausführung, dass
diese Erwägung nicht etwa durch Exemplifikation auf den Bezug von ge-
setzlich gewährten Diäten entkräftet werden könne. Nun müsse aller-
dings zugegeben werden, dass der vorangedeutete Zweck des Art. 32 sicherer
erreicht worden wäre, wenn dem Verbote sogleich eine Strafbestimmung und
zwar sowohl gegen den Geber, wie gegen den Nehmer solcher Privatdiäten
beigefügt: worden wäre. Keineswegs sei aber dieses Verbot ohne Strafbe-
stimmung wirkungslos. Denn etwaige Verträge, durch welche einem Reichs-
tagsabgeordneten als solchem eine Entschädigung versprochen oder zuge-
sichert würde, seien nach bekannten Rechtsgrundsätzen unwirksam und klag-
8) Stenograph. Berichte 1873, I, 8. 79.
Archiv für öffentliches Recht. I. 1. 9