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Diese Ansicht hat in neuerer Zeit in dem Obertribunalrath Meier ?®)
einen sehr energischen Vertreter gefunden. Ausschlaggebend für die Aus-
legung eines Gesetzes sei nur das Wort. Auf dem in seinem rechtlichen
Zusammenhange aufgefassten Gesetzesworte liege nicht nur das Haupt-
gewicht, sondern unter allen Umständen das alleinige Gewicht, während
den Materialien jede rechtliche Bedeutung abgehe... Die bei der Ge-
setzgebung beschäftigten Personen können nicht bloss gleiche, sondern auch
verschiedene Absichten und Ansichten haben, und jede kann hoffen, dass
durch: das Gesetzeswort gerade ihre Absicht erreicht und eben ihre Ansicht
anerkannt werde. „Aber immer hat doch alleinige und immer hat vollstän-
dige Geltung das publizirte Gesetzeswort, wie es steht und liegt, also
mit anderen Worten der Sinn, welcher in demselben liegt und desshalb auch
aus diesem Worte jedem erkennbar ist, welcher es vom juristischen Stand-
punkte betrachtet. Die erweisliche Absicht der Gesetzesfaktoren, etwas
Anderes hineinzulegen, oder ihre Meinung, dass etwas Anderes darin liege,
ist daher völlig gleichgültig.“ Und weiter: „Jedenfalls, meint man,
müsse doch das klare Ergebniss der Materialien dann den Ausschlag geben,
wenn das Gesetzeswort zweifelhaft sei und also zur Erläuterung desselben
benutzt werden dürfe. Allein wir bestreiten auch dies. Die Erläuterung
aus den Materialien führt entweder zu demselben Ergebniss, wie auch durch
eine sorgfältige Betrachtung des Gesetzeswortes erzielt wäre, oder sie
führt zu einem anderen Ergebniss. In dem ersteren Falle ist sie überflüssig,
in dem letzteren enthält sie thatsächlich eine Ergänzung des Gesetzeswortes,
also eine unstatthafte Korrektur des gesetzgeberischen Willens. Ueberdies
ist jeder Zweifel immer nur etwas Subjektives, während objektiv der Sinn
des Gesetzeswortes auch ohne Heranziehung der Materialien stets als gewiss
erscheint, weil sich jeder Zweifel aus ihm selbst und aus dem geltenden
Rechte unter allen Umständen mit Sicherheit lösen lässt.“
Endlich hat sich auch der höchste Gerichtshof des Deutschen Reiches
schon wiederholt über die hier in Rede stehende Frage ausgesprochen. In
dem Erkenntnisse des I. Civilsenats vom 8. Juli 1885 heisst es bezüglich
der Auslegung des Markenschutzgesetzes?”): „Es sind die aus dem Inhalte
des Gesetzes selbst für dessen Auslegung entnommenen Gründe für durch-
greifend und die mitgetheilten, bei der Berathung im Reichstage abgegebe-
nen Erklärungen als verfehlte zu bezeichnen, welche von Neuem einen
schlagenden Beweis dafür bieten, wie wenig es angezeigt sei, auf
Aeusserungen bei der Berathung von Gesetzen in den legis-
latorischen Stadien ein entscheidendes Gewicht zu legen,
statt den Inhalt des Gesetzes klar und scharf in's Auge zu fassen.“
Aehnlich in dem Erkenntnisse vom 9. Juni 1883?°): „Es ist unzu-
lässig in eine Gesetzesbestimmung Beschränkungen hinein-
zutragen, welche diese in sich deutlich gefasste Bestimmung
nicht ausspricht, falls nicht die Nothwendigkeit dieser Be-
26) In GrucHor’s Beiträgen, Bd. 23, S. 1 fg.
?”) Entscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen Bd. XIV, 8. 75.
?®) Eintscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen Bd. IX, S. 395 fg.