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1815 der Fall. Von allen ist auch allein ein Entwurf vom
20. Mai 1802, den man die zweite helvetische Verfassung zu
nennen pflegt, einer (in mancher Hinsicht irregulären) Volksabstim-
mung unterworfen worden *'). Erst seit dem Jahre 1848 wurden
die eidgenössischen Verfassungen in geregelter Weise zur Ab-
stimmung des Volkes und der Cantone gebracht.
Nirgends sind die Gedanken der Menschen in der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts sehr wesentlich auf eine sogen. „Er-
weiterung von Volksrechten“ gerichtet, und in den interessanten
Exposes von Rossı und wieder von KERN und DRrUEY, die den
Verfassungsentwürfen von 1832 und 1848 vorangingen, sucht der
Leser vergebens eine Hindeutung auf die Möglichkeit oder gar
Wünschbarkeit,, diese Oonstitutionen auch nach dieser Seite hin
zu entwickeln. Es war viel eher, (im Jahre 1848 namentlich) der
amerikanische Bundesstaat, den man als Vorbild für die Neu-
gestaltung der schweizerischen Verhältnisse im Auge hatte, als
das im Grunde viel näher liegende Beispiel der zwei föderalisti-
schen Republiken des eigenen Landes, in denen die Volksabstim-
mung bestand, deren Verhältnisse aber vielleicht den meisten
Staatsmännern der damaligen Periode weniger bekannt waren, als
diejenigen des grossen überseeischen, damals einzig in der Welt
bestehenden Bundesstaats.
Die Einführung einer grösseren Oontrole des gesammten Volkes
gegenüber den Beschlussfassungen der repräsentativen Staatskörper
ging in den schweizerischen Cantonen in zwei räum-
lich ziemlich getrennten Perioden vor sich. In der ersten der-
selben gab den Anstoss dazu die zweite französische Revolution
von 1830, welche zuerst die Weltordnung des Wiener ÜUongresses,
die derselbe für lange Zeit restaurirt zu haben glaubte, wieder
in Frage stellte. Damals, wie dann später nochmals im Jahre
1848, wurden natürlich die Meinungen der ersten Revolution und
ihrer Schriftsteller über die Volkssouveränität und ihre prak-
1) Ueber diese erste Volksabstimmung des gesammten schweizerischen
Volkes, die als ein völliges Unicum in unserer älteren Geschichte dasteht, vgl.
obeitirte „Oeffentliche Vorlesungen über die Helvetik“. Bern 1878 pag. 462
und folgende.