— 216 —
Die Eidgenössische Verfassung ist sodann nach einer längeren
Kampfperiode, die ganz positiv die Jahre 1870 bis 1874 um-
fasste, in ihre jetzige Form hinübergeführt worden. Hauptsächlich
stand in Frage dabei, wenn man die Sache mit Einem Worte be-
zeichnen will, eine grössere Uentralisation bis an diejenigen äussersten
Grenzen, welche der Bundesstaat noch nothwendig zu seiner Er-
haltung bedarf. Neben diesem Zwecke, der nicht völlig erreicht
wurde, sondern vielmehr mit einem Ersten Revisionsproject vom
5. März 1872 in der Volksabstimmung vom 12. Mai jenes Jahres
unterlag °”), stand die Frage des besseren Ausbaues der Volks-
souveränetät in den Bundeseinrichtungen in der Ersten Linie der
Revisionsbegehren, nur gab es allerdings auch sehr entschiedene
Vertreter der Uentralisation, welche durch ihr Naturell, oder
ihre staatsmännischen Ansichten und Erfahrungen einer Ver-
stärkung des demokratischen Elements abgeneigt waren ’°®).
5”) Die seitherige innere Entwickelung der Eidgenossenschaft führt
langsam und auf Umwegen wieder auf diesen Standpunkt der Centralisten
von 1872 zurück. Eine solche Probeperiode, wie die verflossenen 15 Jahre,
zeigt am Besten das Richtige oder Unrichtige aller politischen Bestrebungen.
Die willkürlichen Geschöpfe des Augenblicks oder individueller Liebhaberei
verschwinden, die reellen Bedürfnisse machen sich dagegen mit unwider-
stehlicher Gewalt geltend. Die Realpolitiker ziehen daraus zuweilen den
Schluss, dass ihre anfängliche Opposition somit in jedem Falle nur zum
Guten führen könne, sie übersehen dabei nur, dass darüber mitunter ganze
Generationen verkümmern, die auch einen Anspruch auf ein gesunderes
Leben gehabt hätten.
6°) Diejenige politische Richtung, welche mittelst des Referendums den
Liberalismus und die Centralisation bekämpft, ist dagegen erst seither ent-
standen. Die besten schweizerischen Staatsmänner (z. B. Duss, WELTI,
EscHER, SEGESSER) waren in der Revisionsperiode dem Begehren vermehrter
Volksrechte nicht geneigt, meistentheils aus dem Grund, den ein Redner
im Nationalrath mit den Worten ausdrückte: mit einem solchen Reibungs-
Coefficienten verliere die Staatsmaschine ihren gehörigen Nutzeffect. Es ist
übrigens merkwürdig, wenn man nach 10 bis 15 Jahren solche Debatten
wieder liest, so Vieles darin zu finden, was sich seither nicht bewahrheitet
hat und es machen überhaupt diese Reden, für und wider die Volksrechte,
wie sie sich in den gedruckten offiziellen Protokollen der beiden Revisions-
perioden und in einem guten Auszuge bei Currı finden, gegenwärtig nicht
mehr einen erheblichen Eindruck. Man erwartete und fürchtete zuviel
von der neuen Institution. Nicht uninteressant ist, dass bei der da-
maligen Abstimmung in den Eidgenössischen Räthen der Nationalrath mit