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sondern aus dem Zwecke der Wahlpflicht deduciren müssen, wobei wir uns
der künstlichen Natur des angewandten Konstruktionsmittels — Fiktion
eines nicht bestehenden Rechtsinstituts, um dadurch ein bestehendes, das
von jenem nur eine Unterart, zu erkennen — voll bewusst sind. Der ein-
fache Zweck, den der Gedanke der Wahlpflicht bezielt, ist Begründung eines
rechtlich nothwendigen Kongruenzverhältnisses zwischen der Gesammtzahl
der abgegebenen Stimmen und der bestehenden Stimmrechte. Soviel Stimm-
rechte, soviel Stimmen! Dieses Deckungsverhältniss kann als gewissermaassen
objektive Institution durch Handlungen bezw. Unterlassungen der einzelnen
Wähler nicht aufgehoben werden. Eine Verletzung der Wahlpflicht würde
demnach — abgesehen von etwaigen strafrechtlichen Folgen — in specifisch
öffentlich-rechtlicher Hinsicht keinen störenden Einfluss auf jenen als Norm
geltenden Satz: Soviel Stimmrechte, soviel Stimmen ausüben können. Mangels
einer reellen Zwangsvollstreckung gegen den Wahlpflichtigen wird seine Wahl-
pflicht als ausgeübt fingirt, seine Stimme als abgegeben fingirt ®). Sie zählt, da
ihr die Fietion ihrer Abgabe keinen bestimmten politischen Werth verleihen
kann, nicht als reelle Stimme mit bestimmtem Inhalt, sondernals abstrakte Stimme
mit®), und wird einer wirklich abgegebenen Stimme völlig gleich geachtet !°).
In derselben Weise nun wie die Vollstreckung der absoluten Wahls-
pflicht, muss auch die der relativen, die sich auf die Einzelstimmen einer bereits
ausgeübten, untheilbaren Gesammtstimme bezieht durch Fiktion der nicht
abgegebenen Einzelstimmen vollzogen werden, die demnach als abstrakte
Stimmen gleich den reellen Stimmen bei Berechnung der Gesammtzahl der
Stimmen und Bestimmung der Majorität mitzählt. Hatten demnach im
vorliegenden Rechtsfall 286 Wähler, die insgesammt 4 Mal 286 Stimmen
abgeben mussten, nur 859 Stimmen abgegeben, so war die Gesammtzahl der
Stimmen nicht 859, die Majorität nicht 108 (welche demnach von mehr als
4 Kandidaten erreicht wurde!), sondern die Gesammtzahl der Stimmen war
unter Hinzuzählung der folge der Untheilbarkeit der Gesammtstimmen pflicht-
gemäss abzugebenden und bei Nichtabgabe als abgegeben zu fingirenden
abstrakten Stimmen auf 4 Mal 286, d. i. 1144 und die Majorität auf 144
festzusetzen. Es hatten demnach nur die drei Kandidaten mit 195, 195, 193
6) Vgl. auch Reichsecivilprozessordnung $ 779: „Ist der Schuldner zur
Abgabe einer Willenserklärung verurtheilt, so gilt die Erklärung als
abgegeben, sobald das Urtheil die Rechtskraft erlangt hat.“
®, Ein bei aller Verschiedenheit des Inhalts formell-logisch verwandter
Gedanke ist der des römischen Erbrechts, dass der exheredatus bei der
Bestimmung des Pflichttheils der Notherben als Erbe mitzählt: wie hier der
abstrakte Erbe ohne reelles Erbrecht zur Bestimmung der Gesammtzahl der
Erben mitzählt, so dort die abstrakte Stimme ohne reellen Inhalt zur Be-
stimmung der Gesammtzahl der Stimmen.
1%) Der etwaige Einwand, dass bei geheimen Wahlen weisse Zettel, die
doch gerade die Funktion einer solchen abstrakten Stimme haben sollen,
ungültig seien, ist nicht stichhaltig, da es sich hierbei um die Ausübung
eines Wahlrechts in unzulässiger Art, hier dagegen um die Vollstreckung
einer Wahlpflicht in der einzig möglichen Form der Fiction handelt.