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Gewalten entspricht und den Bestand derselben zudem durch die Auto-
rität der Gerichte gegen Eingriffe von der einen oder anderen Seite
sichert. Im Einzelnen ergibt sich Folgendes:
1. Da der Bundesstaat nur kraft der Verfassung besteht, so bildet diese
das höchste Gesetz des Landes, wie das in der Verfassung der Vereinigten
Staaten, die vorzugsweise zur Vergleichung herangezogen werden, ausdrück-
lich anerkannt ist, während in England ein Unterschied in der Verbindlich-
keit der Rechtsvorschriften nicht besteht. Selbstverständlich kann die Bundes-
verfassung weder durch die gesetzgebenden Gewalten der Einzelstaaten noch
durch die gemeinsame Vertretung abgeändert werden, sondern nur durch
eine den beiden übergeordnete Gewalt.
2. Eine Vertheilung der Gewalten zwischen der Nation und den Einzel-
staaten ist selbstverständlich; indessen ist die Scheidung vielfach noch weiter
geführt, so stehen in den Vereinigten Staaten der Präsident, der Congress
und die föderalen Gerichtsbehörden einander mit selbständigen , sorgfältig
abgegrenzten Machtsphären gegenüber, während in England das Parlament
einzig und allein die höchste Gewalt besitzt.
3. Da die Verfassung oberstes Landesrecht ist, so ist es Pflicht der
Gerichtshöfe jedes ihr widersprechende Gesetz als nichtig zu behandeln, eine
Pflicht, welche dieselben kraft der eigenthümlichen Organisation des Gerichts-
wesens und speciell der Stellung des höchsten Gerichtshofes der Vereinigten
Staaten vollständig zu verwirklichen in der Lage sind. In einem Einheits-
staate hingegen, wie in England, kann der Richter gar keinen Anlass zu einer
solchen Thätigkeit haben.
Soviel in der Hauptsache dient zur Erklärung des ersten Fundamen-
talsatzes der englischen Verfassung. Wiederum drei Vorlesungen sind dem
zweiten Grundsatze, der „Rule of law“, gewidmet und wollen daher zeigen, in
welch durgreifender Weise der sog. Rechtsstaat in England verwirklicht ist.
Der Ausdruck „Rule of law“ bedeutet 1. dass nur eine bestimmte
Rechtsverletzung Strafe nach sich ziehen kann, 2. dass das Recht für alle
gleich ist und somit jeder Mensch für jegliche Rechtsverletzung in gleicher
Weise vor den gewöhnlichen Gerichten verantwortlich ist. Zwar sind Beamten,
Soldaten, Geistlichen gesetzlich besondere Pflichten auferlegt, diese aber
befreien nicht von den gewöhnlichen Bürgerpflichten. Ein „droit administratif“,
das der Regierung und ihren Dienern eine besonders bevorrechtete Stellung
gewährt, (s. darüber S. 179—199), indem sie die sog. Administrativhandlungen
den Gerichten entzieht und der Beurtheilung durch besondere Behörden vor-
behält, ist dem heutigen England ganz unbekannt. Vielmehr stehen bier alle
Beamten unter.dem Einflusse der gewöhnlichen Gerichte und somit ist in Eng-
land die Verwaltung unter Superrevision der Gerichte, während in Frankreich
die sog. Trennung der Gewalten bedeutet, dass die Regierung vom Einfluss
der Gerichte frei sein soll. Dass gegen das englische System schwere Bedenken
erhoben werden können, indem mögliche schwere Dienstverletzungen straflos
bleiben, treue Diensterfüllung Verantwortlichkeit nach sich ziehen könne, wird
vom Verfasser an einigen sehr auffallenden Beispielen nachdrücklichst hervor-
gehoben. 8. Der Ausdruck Rule of law will aber endlich noch besagen
— in dieser Beziehung ist er dem englischen Volke eigenthümlich, — dass
die Grundsätze der Verfassung lediglich das Resultat des gewöhnlichen
Landesrechts sind, nur Abstractionen und Verallgemeinerungen von Ent-