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gebracht worden, wie das namentlich erst in jüngster Zeit geschehen ist aus
Anlass der verschiedenen Prozesse, welche Bradlaugh's Ausschliessung aus
dem Parlament hervorgerufen hat (S. 32 f£.). Soll es nun derartigen Zufällen
überlassen sein, ob eine Regel Theil des Verfassungsrechtes sei oder nicht.
Das Resultat wäre jedenfalls ein befremdendes. Von der grossen Masse der
Regeln, welche das Verfassungsleben der Nation in gleicher Weise als ver-
pflichtende beherrschen, würde ein Theil das Verfassungsrecht bilden, wäh-
rend ein anderer vollständig ausserhalb derselben stehen und daher gar nicht
der Cognition der Juristen unterliegen würde. Eine Darstellung der Ver-
fassung auf dieser Grundlage müsste nothwendig unvollständig und lückenhaft
sein. Sätze fundamentalster Bedeutung würden fehlen, weil, mangels obrig-
keitlicher Declaration, lediglich in’s Gebiet der Moral gehörend.
Freilich handelt Dıicey von derartigen Sätzen in seiner letzten Vorlesung
als sog. „Öonventions“, aber nicht um ihren Inhalt darzustellen, sondern
lediglich um den Zusammenhang aufzuzeigen, in welchem sie zu den eigent-
lichen Rechtssätzen (laws) stehen und doch umfassen diese Conventions das
ganze Gebiet der gewohnheitsrechtlichen Satzungen, soweit dieselben nicht
schon durch Richterspruch anerkannt sind. Daneben finden wir allerdings
nicht wenig Regeln, denen der Charakter von Rechtssätzen nicht beigelegt
werden kann, die vielmehr als anleitende, frei anzueignende Vorschriften
erscheinen. Daher sollte auf diese der Name „Conventions“ beschränkt
werden. sSelbstverständlich ist nicht ausgeschlossen, dass eine derartige
Regel im Laufe der Zeit den Charakter eines eigentlichen Rechtssatzes an-
nehmen kann, und dass es daher im einzelnen Falle schwierig sein mag zu
entscheiden, ob wir es mit einer Regel der einen oder der andern Art zu
thun haben, allein diese Schwierigkeit berechtigt uns nicht, den Rechtsbegriff
auf eine Kategorie von sozusagen handgreiflichen Rechtssätzen zu beschrän-
ken. Zudem ist diese Schwierigkeit allen Wissensgebieten gemeinschaftlich.
Es ist vollkommen klar, dass ein Kirschenbaum eine Pflanze, und dass ein
Affe ein Thier ist; wollte man aber den Begriff der Pflanze auf Lebewesen,
die in Wurzel, Stamm und Krone gegliedert sind, und den des Thieres auf
jene beschränken, welche einen Wirbel haben, so würde man nicht nur un-
zählige den genannten wesentlich gleichartige Geschöpfe von der Betrachtung
ausschliessen, sondern es auch ganz unmöglich machen, die Grenze zwischen
dem Thier- und dem Pflanzenreich zu ziehen.
Will nach dem Gesagten der von DickY angenommene Rechtsbegriff in
Hinblick auf die englische Verfassung nicht befriedigen, so scheint es uns
auch, dass er zu einer Auffassung der continentalen und speciell der fran-
zösischen Verfassung führt, welche von Widerspruch nicht frei ist. Einer-
seits behauptet der Verfasser, dass das französische Parlament in seiner
gewöhnlichen Capacität ein nicht souveräner gesetzgebender Körper sei, da
es Verfassungsgesetze nicht ändern könne, und anderseits ist für ihn eben diese
Beschränkung, weil der Sanction gegen Uebertretungen entbehrend, keine
Rechtsvorschrif. Wenn aber, so müssen wir einwenden, das Parlament
rechtlich in seiner Legislative nicht beschränkt ist, so muss es doch
wohl souverän sein. Gleichwohl wird aber jeder geneigt sein, der gegen-
theiligen Anschauung beizutreten und somit eine rechtliche Beschränkung
der gewöhnlichen gesetzgebenden Vertretungen anzunehmen.
Bedenken anderer nicht wesentlich juristischer Art sind es, welche die