— 329 —
Betrachtung des Abschnittes über den Föderalismus hervorruft. Wenn Dicky
als nothwendige Voraussetzung eines Bundesstaats ein Verlangen nach natio-
naler Einheit verbunden mit einem gleichzeitigen Entschlusse, die staatliche
Selbständigkeit zu behaupten, und diese beiden Verlangen als einander wider-
streitend bezeichnet, so ist das gewiss richtig; wenn er sie dagegen als etwas
besonders Eigenthümliches auffasst, so kann man ihm darin nicht beitreten.
Wir glauben im Gegentheil, dass jene Bestrebungen, die in einer bundes-
staatlichen Verfassung ihre Befriedigung finden, einem tiefen Zuge der
menschlichen Natur überhaupt entsprechen. In allen denkbaren Lebens-
kreisen finden wir denselben Gegensatz; in jeder Familie will sich der
Einzelne gegen den andern Familiengenossen zur Geltung bringen und doch
fühlen alle, dass sie gegenüber Dritten gemeinsame Interessen haben. Dasselbe
lässt sich von den verschiedenen Kreisen von Berufsgenossen sagen; das
Interesse trennt sie und hält sie dennoch zusammen. So auch glaubt der
einzelne Staat seine Interessen oft nur durch völlige Niederwerfung seines
Nachbarn wahren zu können und doch verbinden sie tausendfache Beziehungen
mit einander, die in zahlreichen Verträgen und Satzungen des internationalen
Rechtes ihren Ausdruck finden. Es will uns scheinen, dass der Verfasser
bei seiner Würdigung des Föderalismus sich von Anschauungen hat leiten
lassen, die einem Engländer am nächstliegenden und natürlichsten erscheinen
müssen. England hat sich die halbe Welt dienstbar gemacht, allein mit dem
Erwachen nach Selbständigkeit innerhalb der abhängigen Gebiete hat man
nie daran ernstlich gedacht, in eine Art föderaler Vereinigung mit ihnen zu
treten, sondern hat sie zu thatsächlich unabhängigen Colonieen gemacht, die
aber von Rechtswegen noch der Souveränetät des britischen Parlaments
unterworfen sind, eine Souveränetät, welche freilich praktisch von verschwin-
dender Bedeutung ist.
Die erwähnte Anschauung DiceY’s ist es auch, welche ihn (S. 157 ff.)
in seiner Vorlesung über den Föderalismus zur Folgerung bestimmt, dass
ein Bundesstaat im Vergleich zu einem Einheitsstaat von gleichen Hülfs-
quellen nothwendig schwach sein müsse; während man doch zugeben muss,
dass indem einzelne Attribute, wie namentlich die Militärhoheit und die
Vertretung nach Aussen lediglich dem Bundesstaat zugewiesen werden, eine
formidable Macht der Gesammtheit entfaltet werden kann und dass anderseits
ein Einheitsstaat durch die Fülle der den einzelnen Gemeinden und Cor-
porationen überlassenen Selbstbestimmung und Verwaltung ungleich schwächer
als ein Bundesstaat sein kann.
Wenn wir auch im Vorstehenden gewichtige Bedenken gegen die Grund-
anschauung des Verfassers vorbringen mussten, so können diese ihm doch nicht
eigentlich zum Vorwurfe gereichen, da er selbstverständlicher Weise in seinem
Buche nicht ex professo den Rechtsbegriff behandeln will, sondern nur eine
Theorie vertritt, die sich in ganz merkwürdiger Weise der englischen Juristen
überhaupt bemächtigt hat !). Doch zeigt es uns klar, wie sehr die juristische
Principienlehre der Durcharbeitung bedarf. Können in dieser Richtung die
Engländer von uns Deutschen lernen, so scheint mir auch gewiss, dass wir
umgekehrt von ihnen und insonderheit von dem uns vorliegenden Buche
. D) Vgl. meine Besprechung von Prof. HorLann’s Jurisprudence in der
Krit. V.-J.-Schr. für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, N. F. Bd. VII.