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will. Der steten lebhaften Betheiligung an der Politik und Ge-
setzgebung des Landes verdankt das rhätische Volk offenbar einen
sehr grossen Theil seines festen, freiheitsliebenden und doch dabei
massvoll-verständigen Characters und jene glückliche Vereinigung
der guten Eigenschaften sehr verschiedener Nationalitäten auf
Grundlage freiheitlicher Institutionen, wie sie auf seinem Boden
allein stattfindet°!). Die erziehlichen Wirkungen der Insti-
tution haben sich hier bewährt, der Character des Volkes ver-
dankt ihr einen wesentlichen Theil seiner guten Eigenschaften.
Man muss allerdings beifügen, dass dieselbe dort seit jeher mit
sehr viel praktischem Verstand und Geschick gehandhabt worden
ist, wie sie eben zu allen politischen Dingen gehören. Niemals
bis zu der neuesten Verfassung bestand z. B. ein Finanz-
referendum ; sowohl das regelmässige Budget, als etwaige Ein-
malige grosse Ausgaben wurden stets nur von dem Grossen
Rathe, seitdem derselbe bestand, beschlossen, welchem lediglich
durch die Einrichtung der sog. „Standescommission“ eine aus
den einflussreichsten Personen aller Landestheile zusammengesetzte
Vorberathungscommission zur Seite stand, ohne deren Rath
solche Vorschläge gar nicht in den Schoss der obersten Landes-
behörde gelangten. Erst seit 1880 besteht neu, in Nachahmung
anderer Cantone, die Bestimmung, dass Ausgaben von 100 000 Fr.
(oder 20 000 in 5 Raten) dem Volke vorgelegt werden müssen.
Ebenso wenig gab es dort, bis in die neueste Zeit, überhaupt eine
nähere Definition des obligatorischen Referendums und es konnte
wohl vorkommen, dass wichtigste Dinge, wie die alte Forstordnung
®!) Graubünden ist der einzige Canton der Schweiz, der drei National-
sprachen, ja wenn man die beiden romanischen Dialecte unterscheidet, vier
solche besitz. Auch das schwierige Friedensverhältniss zwischen den
Confessionen wird im Ganzen hier glücklicher bewahrt, als anderwärts und
die Aufrechthaltung der Staatsgewalt gegenüber der Kirche ist, dabei
doch eine sicherere als in manchen Cantonen, in denen die erstere Macht
viel entwickelter ist. Das geringe Mass von staatlicher Vielregierung und
die grosse individuelle Freiheit und Gleichheit machen das Land jedem frei-
heitlich gesinnten Menschen theuer, der längere Zeit daselbst gelebt hat.
Das Alles wäre ohne die Volksgesetzgebung ganz anders; es wäre überhaupt
wenn man die dortige Geschichte kennt, nicht denkbar, dass Graubünden
als staatliches Ganzes sich erhalten hätte.