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Wo jedoch die Verfassungsurkunde lediglich bestimmt, dass
der Volksvertretung das Recht der jährlichen Steuerbewilligung
zustehe, lässt sich die Behauptung, es seien hiedurch eo ipso
alle älteren Gesetze, mit welchen die Abgabenpflicht der Unter-
thanen ohne Beschränkung auf eine gewisse Zeitdauer statuirt
wurde, leges annuae geworden ??), nicht mit Erfolg geltend machen.
Sind aber nach Erlassung der Verfassungsurkunden Abgaben
durch Gesetz ohne zeitliche Beschränkung neu eingeführt oder
regulirt worden, so kann schon gar kein Zweifel darüber ob-
walten, dass die Einhebung dieser Abgaben von der jährlichen
Steuerbewilligung unabhängig sei, weil im entgegengesetzten Falle
zum Mindesten eine Berufung auf die mehrgedachte Verfassungs-
bestimmung hätte erfolgen müssen, wenn dem Schlusse vorgebeugt
werden sollte, dass der Gesetzgeber in Ansehung der neu ein-
geführten Steuer von der jährlichen Bewilligung abstrahiren
wollte.
Zur Begründung der gegentheiligen Ansicht kann auf das
Steuerbewilligungsrecht der Landstände im Sinne der älteren Ver-
fassungen nicht zurückgegriffen werden. Denn abgesehen davon,
dass mit wenigen Ausnahmen die modernen Verfassungen keines-
wegs ohne Unterbrechung der historischen Continuität aus den
älteren ständischen Verfassungen hervorgiengen, von einer Fort-
entwickelung des ständischen Steuerbewilligungsrechtes zu der Mit-
wirkung der Volksvertretung bei Feststellung des Einnahmenetats
daher im Allgemeinen nicht gesprochen werden kann ??), ist der
der Lasker’schen Abhandlung „Beiträge zur Verfassungsgeschichte Preussens“
insbesondere Gxeist, Gesetz und Budget, S. 122 und ff.
22) Dies behaupten Zorn, Staatsr., II. S. 340, SEIDLER, a. a. O., 8. 226 ff.
2) In England, wo unser Einwurf nicht zutrifft, unterliegt aber
bekanntlich nur ein kleiner Theil der Einnahmen (nach GxeEist ein Siebentel)
der periodischen Bewilligung von Seite des Parlamentes. Der Hinweis auf die
dortigen Verhältnisse könnte daher gleichfalls nicht den Streit zu Gunsten
der Gegner entscheiden. Die Unterscheidung zwischen fixen und beweglichen
(von der periodischen Bewilligung durch die Volkskammer abhängigen)
Steuern hat auch in den österreichischen Verfassungsentwürfen der Jahre
1848 und 1849 Aufnahme gefunden, doch sind die betreffenden Verfassungen
nicht in’s Leben getreten. Vgl. HusELmann, Studien zum österr. Ver-
fassungsr. (1886), S. 33.