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Erbrecht. Ein festes, einheitliches Princip fehlte ganz natur-
gemäss da, wo die staatlichen Verhältnisse so lose waren, wie
in den ersten Jahrhunderten nach der Gründung der Rurik-
dynastie. Erst an das Moskowische Fürstenthum setzt sich
während der Tartarenherrschaft dauernd ein zäher, entschlossener
und rücksichtsloser politischer Gedanke an. Die erbliche Ein-
herrschaft wird hier allmählich principiell durchgeführt; schon
gegen Ende des 15. Jahrhunderts begegnen wir einem ganz be-
stimmten Ansatz im Sinne der Linealprimogeniturerbfolge. Aber
die politischen Ereignisse im Zusammenhang mit den Dynastie-
wechseln im 16. und 17. Jahrhundert und der Regentschafts-
frage im 17. und 18. Jahrhundert — brachten das für das
grosse Reich nothwendige Princip der Lineal-Primogenitur immer
und immer wieder aus dem angestrebten Gefüge: es wurde ent-
weder umgangen oder fand keinen sichtbaren Ausdruck.
PETER DER Grosse, im Gram und Zorn über den (bekannten)
Ungehorsam seines einzigen Sohnes, glaubte, im Interesse für
das Wohlergehen seines Landes, das erbliche Thronrecht ganz
aufheben zu müssen. Er führte die testamentarische Thronfolge
ein, — aber er selbst hat kein Vermächtniss hinterlassen. Die
kühne, radicale und etwas demokratische Art, wie der grosse
Zar mit seiner Reform vorging, war sehr bemerkenswerth. - Sein
Vorgehen war für die Begriffe jener Zeit ein ganz aussergewöhn-
liches und wenig verständliches, und der energische Zar, ein
Selbstherrscher, wie nur je einer es gewesen, aber auch würdig,
wie kein anderer, ein solcher zu sein, sah sich veranlasst, nicht
nur mit Gewaltmitteln dem gethanen Schritt kategorischen Ge-
horsam zu erzwingen, sondern auch die freie Ueberzeugung der
Unterthanen für die Reform nachsuchen und gewinnen zu müssen.
Er liess sich daher von allen Unterthanen das neu angeordnete
Testamentsthronfolgegesetz besonders beschwören (1722), gleich-
sam als einen Staatsgrundvertrag, und ordnete an, eine
historisch-naturrechtlich und theologisch motivirte Rechtfertigung