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kursgericht gegen den Gemeinschuldner behufs Sicherung der
Masse oder Erfüllung der ihm auferlegten Pflichten verhängt,
K.-O. 88 93, 98, kann gegen Reichstagsmitglieder während der
Dauer der Tagung ohne Genehmigung der Versammlung nicht
vollstreckt und muss auf ihr Verlangen für den genannten Zeit-
raum unterbrochen werden. Wenn man aber das Gleiche von
der auf Grund der 88 178 und 179 des Gerichtsverfassungs-
gesetzes wegen Ungebühr oder Ungehorsams verhängten Haft be-
hauptet?), so übersieht man, dass in diesen Gesetzesbestimmungen
von einer Civilhaft überhaupt nicht die Rede ist, sondern von
einer Ordnungsstrafe.
Die persönliche Unverantwortlichkeit der Reichstagsabge-
ordneten für ihre Abstimmungen und in Ausübung ihres Berufes
gethane Aeusserungen ist durch $ 11 des St.-G.-B. den Mit-
gliedern aller deutschen gesetzgebenden Versammlungen zugesichert
worden, so dass insoweit die Verfassungsbestimmungen der Einzel-
staaten durch das einheitliche Reichsrecht modifizirt worden sind.
Der im Reichstage dem von den Regierungen vorgelegten Entwurf
eines Strafgesetzbuchs hinzugefügte Artikel lautet: „Kein Mitglied
eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reiche gehörigen
Staates darf ausserhalb der Versammlung, zu welcher das Mit-
glied gehört, wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Aus-
übung seines Berufes gethanen Aeusserungen zur Verantwortung
gezogen werden.“ Trotzdem die Formulirung dieses Artikels von
der des Artikels 30 der R.-V., die vorbildlich war, abweicht, so
besteht doch sachlich keine Verschiedenheit zwischen beiden.
Die Unverantwortlichkeit, welche durch $ 11 den Mitgliedern der
Landtage und Kammern der Gliedstaaten des deutschen Reiches
zugesichert wird, ist dieselbe wie diejenige, deren sich die Reichs-
tagsabgeordneten erfreuen. Sie bewirkt nicht nur eine Straf-
losigkeit der Abgeordneten, sondern auch die Unmöglichkeit,
die beruflichen Aeusserungen zur Grundlage einer gerichtlichen
Schadensersatzklage machen zu können; die einschränkende Aus-
9) So Gurrzıs, Die strafprozessuale Privilegirung von Mitgliedern gesetz-
gebender Versammlungen, Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissen-
schaft Bd. VII, S. 634, Anm. 4.