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wurf, dessen Inhalt die Zuständigkeit des Reichsgesetzgebers über-
schreitet, ist gemäss Art. 78, Abs. 1 mit der gehörigen Stimmen-
zahl angenommen. Müsste man nun dem Kaiser ein Recht der
Prüfung auch des Inhaltes einräumen, so wäre er im vorliegenden
Fall befugt, Promulgation und Publication zu versagen. Denn
der Inhalt ist ein verfassungswidriger. Die Uonsequenz wäre das
Veto des Kaisers bei allen Verfassungsänderungen, und da der
Annahme desselben der Wortlaut des Art. 78, Abs. 1 klar wider-
spricht, indem er lediglich die Zustimmung des Reichstags und
den Nichtwiderspruch von 14 Bundesrathsstimmen zu einem ver-
fassungsändernden Gesetz fordert, so muss die Voraussetzung,
von welcher ausgegangen ist, falsch sein. Und sie ist es in der
That. In dem Augenblick, wo die Uebereinstimmung der Reichs-
tagsmehrheit und der erforderlichen Bundesrathsstimmen vorliegt,
ist der Inhalt dieses Gesetzentwurfs an die Stelle einer etwa
widersprechenden Norm der Verfassungsurkunde getreten. Schon
jetzt ist, wie ausgeführt wurde, dieser Inhalt, wenn auch noch
nicht Jedermann, so doch den Kaiser bindendes Gesetz.
Allein, wenn man von diesem Grundsatz ausgeht, ist es da
nicht nur folgerecht, zu sagen: Wenn einmal der Bundesrath
bewusst trotz des Widerspruchs von mehr als 14 Stimmen ein
verfassungsänderndes Gesetz beschliesst und der Reichstag zu-
stimmte, ist da nicht für einen speciellen Fall die Bestimmung
des Art. 78, Abs. 1 ausser Kraft gesetzt? Dieser Artikel muss
doch ebenso gut und in der nämlichen Weise, wie ein beliebiger
anderer, abänderlich sein? Ich fühle mit dem Leser die Unstich-
haltigkeit dieses Einwurfs. Wo liegt die Lösung?
Gewöhnlich lehrt man heute folgendes: Die Frage, ob neu
zu erlassende Specialgesetze stets mit der Verfassung in Einklang
stehen müssen, ist zu verneinen. Danach bedarf es bei einem
Gesetz, welches inhaltlich der Verfassungsurkunde widerspricht,
bei einem sog. materiell verfassungswidrigen Gesetz nicht einer
vorherigen Correctur des Wortlauts der Verfassungsurkunde.