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Canonisten jedoch, zuerst INNOCENZ Iv. und JOHANNES ANDREAE
bestritten die Gleichstellung der physischen und juristischen Per-
sonen, indem sie, die Fictionstheorie begründend und entwickelnd,
alles Gewicht auf die obrigkeitliche Verleihung der ver-
schiedenen corporativen Rechte legten und somit auch den Er-
werb öffentlicher und kirchlicher Gerechtsame nicht aus dem
Wesen der juristischen Person ableiteten, sondern von dem Nach-
weis einer Uoncession seitens des herrschenden Willens abhängig
machten ?°®),
Diese Streitfrage ist freilich längst verschollen. Aber nur
darum, weil zwischenweilig die Rechtspflege auf dem Gebiete des
öffentlichen Rechts im Absolutismus untergegangen war. Allein
seitdem dieselbe in unserer modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit
wieder auflebte, musste auch jenes Problem eine erneute praktische
Wichtigkeit gewinnen, leider ohne dass dasselbe bisher der so
dringend nöthigen Prüfung seitens der Doctrin unterzogen worden
wäre. Heute ist daher wieder wie ehedem die Frage von grosser
Bedeutung, welche vor fast sechs Jahrhunderten InNocEnZz IV.
und JOHANNES ANDREAE aufgeworfen hatten, ob nämlich in den
zahlreichen Fällen, da in Gesetzen oder Verträgen die Ausdrücke
„Jeder“ oder „wer“ vorkommen, auch die juristischen Personen
unter diesen Worten zu verstehen seien. Und wir werden gewiss
keinen Zweifel hegen, diese Frage im Sinne der mittelalterlichen
Canonisten zu beantworten, nämlich eine allgemeine Bejahung
derselben zu vermeiden und jedes einzelne Gesetz in dem Sinne
zu interpretiren, ob der als Substrat des bezüglichen Gremein-
wesens anerkannte Zweck die Subsumtion desselben unter jene
allgemeine Ausdrucksweise zulasse und bedinge oder nicht —, eine
Arbeit freilich, die weniger Erforschung des Sinnes der bezüg-
lichen Willensacte, als eine durch die Verhältnisse nothwendig
a.a. 0. III. S. 201 f, 209, 215 f. — *%) Gierke a. a. 0. S. 280 ff., 497,
727 (N. 88).