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Wie schon LABAnD?), mit Recht hervorgehoben hat, folgt
aus dem in Art. 2 der Reichsverfassung aufgestellten Grundsatz,
dass die Reichsgesetze den Liandesgesetzen vorgehen, der weitere
Satz, dass „Landesgesetze zur Ergänzung der Reichsgesetze un-
zulässig sind, wenn das Reichsgesetz eine Materie vollständig
regeln wollte, gleichviel ob es dieses Ziel thatsächlich in befrie-
digender Weise erreicht hat oder nicht.“ —
Die Richtigkeit dieses Folgesatzes, welcher allein im Stande
ist, den einheitlichen Charakter des Reichsrechtes zu wahren, wird
in Theorie und Praxis überall anerkannt°).
Es fragt sich nur, welche Tragweite und Bedeutung dem
Satze beizumessen ist; was man unter dem Begriff „Materie“ zu
verstehen hat und wann anzunehmen ist, dass das Reichsrecht
eine Materie vollständig regeln wollte. Diese im Einzel-
fall unter Umständen sehr schwer zu entscheidenden Fragen lassen
sich nicht generell lösen; vielmehr muss von Fall zu Fall durch
Auslegung des Gesetzes genau untersucht werden, welche Materie,
d. h. welches Gebiet gesetzgeberischer Massnahmen das Reichs-
recht geregelt hat und ob und inwieweit es sich die ausschliess-
liche gesetzgeberische Thätigkeit auf diesem Gebiete vorbehalten.
Bei Lösung der Frage im Einzelfall können indess folgende
Auslegungsgrundsätze zur Richtschnur dienen:
auch mit Bezug auf die in den einzelnen Bundesstaaten erlassenen Polizei-
verordnungen gilt, so dass also alle solche Verordnungen, welche mit einem
Reichsgesetz in Widerspruch stehen, rechtsunwirksam sind. — Zum Ueber-
fluss sei speciell für Preussen noch an den $ 15 des Ges. vom 11. März 1850
(G.-S. S. 265) erinnert, welcher ausdrücklich besagt, dass in die polizeilichen
Vorschriften keine Bestimmungen aufgenommen werden dürfen, welche mit
den Gesetzen in Widerspruch stehen.
2) Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. I, 8 59, S. 619 (2. Aufl.).
®) Vgl. die bei Lazann a. a. O.S. 619, A. 4 eitirten Schriftsteller;
ferner E. d. R.-G. vom 4. Januar 1881, Bd. III, S. 27 ff., insbes. S. 33; vom
30. Juni 1882, Bd. VII, S. 346, insbes. S. 347: „Wenn ein Reichsgesetz
eine Materie vollständig regeln will, so sind Landesgesetze zur Ergänzung
des Reichsgesetzes nicht zulässig u. s. w.“