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offenbare Lücken des Reichsgesetzes nicht ergänzen darf, sofern
nicht das Reich eine solche Ergänzung durch die Gesetzgebung
der einzelnen Bundesstaaten ausdrücklich gestatten wollte. —
Ob nun einerseits eine solche grundsätzliche Regelung vor-
liegt und ob andererseits das Reich trotz derselben der Landes-
gesetzgebung noch eine Ergänzung des Reichsgesetzes gestatten
wollte, das ist im Einzelfall unter Zugrundelegung folgender Aus-
legungsregeln zu entscheiden:
a) Die grundsätzliche Regelung einer Materie lässt sich in
der Regel schon aus der Ueberschrift des Gesetzes oder aus ein-
zelnen ausdrücklichen Bestimmungen desselben entnehmen; indem
z. B. das Reich eine „Konkursordnung“ erlässt, setzt es damit
alle konkursrechtlichen Vorschriften der Landesgesetze ausser
Kraft und verhindert gleichzeitig eine Neuregelung irgendwelcher
konkursrechtlicher Verhältnisse durch einen Bundesstaat; vgl. E.
des R.-G. vom 6. October 1880, Bd. 2 8.93. —
Wenn andererseits das Reichsgesetz vom 7. Juni 1871 (R.-
G.-Bl. S. 207) nur die Haftpflicht der Eisenbahnunternehmer,
der Bergwerks-, Steinbruchs-, Gräberei- und Fabrikbesitzer regelte,
so war es den Laandesgesetzen unbenommen, die Schadensersatz-
pflicht der Unternehmer anderer gefährlicher Betriebe (z. B. der
Bauunternehmer) ganz selbständig und abweichend von den reichs-
rechtlichen Vorschriften zu normiren.
So einfach hiernach auch dies Auslegungsprincip ist, so
schwierig wird es doch mitunter im Einzelfall sein, fest-
zustellen, ob eine landesrechtliche Vorschrift in das Gebiet der
grundsätzlich geregelten reichsrechtlichen Materie fällt; dies zu
entscheiden, ist Sache der Rechtsprechung, der Einzelanwendung
des Gesetzes. —
b) Hat eine solche grundsätzliche Regelung einer Materie
durch Reichsgesetz stattgefunden, so ist jedes landesgesetzliche
Eingreifen ausgeschlossen, sofern nicht das Reichsgesetz selbst
ein solches ausdrücklich zulässt. Dies ist meist in der Weise