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verweisen sie wenigstens darauf; zuletzt ist es gar nicht mehr nothwendig. Mit
dem Namen Gesetz ist ein gewisser Umfang von Vorrechten und Vorbe-
halten von selbst verbunden in dem hergebrachten Sinn. Wenn das Ver-
fassungsgesetz vom 25. Februar 1875 sagt: le pouvoir lögislatif s’exerce par
deux Assemblees (Art. 1), so meint es damit insbesondere auch die Gewalt,
die in den Menschenrechten dem Gesetze zugeschriebenen Eingriffe aus-
schliesslich ausüben zu können. Also diese sog. Freiheitsrechte gelten noch,
nicht weil es vernünftiger Weise so sein sollte, sondern, weil die neuen
Verfassungstexte sie durch den Gebrauch der entsprechenden termini technici
stillschweigend bestätigen. — Der Verfasser verweist (S. 20 Anm. 27) auf
die Erörterungen LEFEBYRE's, etude sur les lois constitutionnelles de 1875
S. 21, in welchen er bloss den Gedanken findet, dass die Freiheitsrechte von
1789 „lediglich nach Massgabe der sie näher bestimmenden und begründenden
Gesetze zur praktischen Anwendung gelangen können.“ LEFEBVRE sagt aber
von den neuen Verfassungsgesetzen ausdrücklich: nul doute qu’elles entendent
consacrer et sauvegarder l’ensemble des libertes et des droits publics tra-
ditionnels. Diese Freiheitsrechte sind nicht mehr in feierlichen Erklärungen
noch besonders an die Spitze der Verfassung gestellt, wo sie aussehen, als
seien sie absolut (während sie doch nur gegenüber der vollziehenden Gewalt
wirken und dem Gesetze allerdings alle Eingriffe vorbehalten); man findet
sie aber wieder in den praktischen Gesetzen, „qui en marquent la mesure en
m&me temps qu’elles impliquent l’existence“. Dieselben setzen die Freiheits-
rechte als bestehend voraus, weil gerade nur wegen der darin zu Gunsten
des Gesetzes enthaltenen Vorbehalte das einzelne Gesetz nothwendig ist,
um den Bürgern eine solche Beschränkung aufzulegen. LEFEBYRE spricht
sich also viel entschiedener aus, als der Verfasser annimmt, und zwar ganz
in dem obigen Sinn. —
Die hier besprochene Arbeit berührt sich natürlich vielfach mit der
einzigen deutschen Darstellung des gegenwärtigen französischen Verfassungs-
rechts, welche sie vorfand, mit dem Werke von LEBox im vierten Bande von
Marquardsen’s Handbuch. So darf wohl auch über letzteres Werk bei
dieser Gelegenheit ein Wort gesagt werden. Wenn der Herr Herausgeber
bestrebt war, für die Bearbeitung des Staatsrechts ausserdeutscher Länder
je einen Gelehrten des betreffenden Landes zu gewinnen, so bot das ja
gewiss mancherlei Vortheile, namentlich erhält auf diese Weise jede Dar-
stellung ihre eigene couleur locale. Gleichwohl wird man manchmal den
Mangel eines gemeinsamen wissenschaftlichen Bodens doch recht störend
empfinden. Nicht alle diese ausländischen Gelehrten stehen in lebendigem
Zusammenhang mit unserer deutschen Staatsrechtswissenschaft; was diese
gerade bewegt, die Begriffe, welche bei uns nach Gestaltung ringen, die
Fragen, auf welche es uns vor Allem ankommt, daran gehen sie unbewusst
vorüber. Hätte man deutsche Arbeiter in die fremde Ernte ausgeschickt, so
hätten sie — allerdings mit mehr Mühe — reichlichere Früchte für die