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Der kontinentale Grundsatz der Nichtauslieferung der Nationalen hat
nur theilweise in Verfassungen Ausdruck gefunden; der gewöhnlich hierauf
bezogene Satz, dass Niemand seinem ordentlichen Richter entzogen werden
könne, bezweckt nach der zutreffenden Ausführung des Verfassers nur den
Ausschluss gesetzlich nicht begründeter Ausnahmegerichte, nicht eine staats-
rechtliche Abgrenzung der inländischen Gerichtsbarkeit gegen die auslän-
dische. Dagegen hat das in Rede stehende Verbot in anderen Gesetzen und
Verordnungen, namentlich in den deutschen Straf-Kodifikationen dieses
Jahrhunderts Aufnahme und von da den Weg in die Verträge gefunden.
Dasselbe wurzelt in dem in den jungen souveränen Staaten sich entwickelnden
neuen Begriff des Staatsbürgerrechts, aus welchem der Anspruch des Bürgers
auf Aufenthalt und Duldung im Staats-Gebiete, und, solange er sich nicht
freiwillig ins Ausland begeben hat, zugleich auf Antheilnahme an den be-
stehenden gesetzlichen Einrichtungen, insbesondere an der Rechtspflege des
einzelnen Staates mit allen ihren Garantien, abgeleitet wird. Hiermit ist die
Auslieferung an einen fremden Staat unverträglich. Es handelt sich also nicht
um ein vom Völkerrecht diktirtes, sondern um ein im Staatsrecht des ein-
zelnen Staatsgebiets wurzelndes, verfassungsmässiges Prinzip, welches durch
processuale oder andere Rücksichten nicht gebeugt werden kann. Dasselbe
findet jedoch nur Anwendung auf die Auslieferung, nicht auf andere, eine
Preisgebung des Inländers an das Ausland nicht enthaltende Rechtshilfe-
Akte, und mit Recht erklärt es v. M. als eine Ueberspannung staatlicher
Schutzherrlichkeit, wenn nach deutscher und österreichischer Praxis nament-
lich die erbetene Zeugenvernehmung abgelehnt wird, sofern die Untersuchung
gegen einen nicht verhafteten Inländer geführt wird. — In den übrigen kon-
tinentalen Staaten geht der fragliche Grundsatz zum Theil weit in die Ver-
gangenheit zurück, namentlich in Italien und der Schweiz, wo sein Ursprung
vom Verfasser bis ins Mittelalter zurück verfolgt wird. Er beherrscht ebenso
die neuesten gesetzgeberischen Entwürfe für Oesterreich, Ungarn, Russland,
Spanien. So glaubt denn v. M. schliesslich dem Verbote der Auslieferung
der Nationalen eine vollständige Universalität (jus gentium) und zwingende
Nothwendigkeit zuerkennen zu sollen, indem er sagt: „Ist der Staat eine
Einrichtung, berufen, Gesammtzwecken seiner Glieder in selbst genug-
samer Ausschliesslichkeit zu dienen, so hat die Staatsgewalt die
Gerechtigkeit, die sie den Bürgern schuldet, selbst zu handhaben, und sie
würde mit ihrer Bestimmung in Widerspruch treten, wenn sie durch Aus-
lieferung ihrer Angehörigen fremde Gerichtsbarkeiten mit einer Aufgabe
betraute, die in Wahrheit ihr selber zukommt“.
Hiermit ist schon ausgesprochen, dass der Verfasser der in einer immer
wachsenden Spezialliteratur neuerdings vertheidigten Theorie, wonach die
Nichtauslieferung eigener Unterthanen ein überlebtes Ausnahmerecht wäre,
durchaus ablehnend gegenübersteht. Und zwar verwirft er nicht nur die
„unter dem Zeichen der Anglomanie begonnene“, in Frankreich seit Jules