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ein Staat die Auslieferung gestattet, ist der Umfang, in welchem er Aus-
lands-Verbrechen selbst straft, nicht entscheidend, und es kann daher der
Behauptung von Lammasch keineswegs beigepflichtet werden, dass ein Staat
Jemanden nur ausliefern könne, wenn er berechtigt wäre, ihn wegen des
Verbrechens selbst zur Verantwortung zu ziehen.
Im Gegensatze zu H. GrooT erkennt PuUFENDORF eine Verbindlichkeit
des Zufluchtstaates nur an, wenn er auf seinem Gebiete feindliche Hand-
lungen gegen einen anderen Staat geduldet hat; ausser diesem Falle besteht
nur eine vertragsmässige Verpflichtung zur Auslieferung. Diese Theorie hat
im Laufe des vorigen Jahrhunderts so sehr die Ueberhand genommen, dass
mit dem Wegfall der Auslieferungspflicht auch von ciner Asylpflicht, wie sie
H. GrooT dem schuldlosen Verfolgten gegenüber statuirte, nicht weiter die
Rede ist. Auch die von Frankreich her eindringende territorialistische Theorie
des Strafrechts forderte die möglichste Enthaltung vom Auslieferungsverkehr.
Setzten die Mächte auch thatsächlich den Auslieferungsverkehr fort, so er-
wuchsen ihnen beim Abschluss bezüglicher Verträge bis dahin unbekannte
Schwierigkeiten aus dem neuen Begriff des politischen Delikts.
Im Zeitalter der Juli-Revolution galt das Auslieferungsrecht geradezu als
eine politische Freiheitsfrage, die einer juristischen Behandlung nicht fähig
sei. Das freiwillige Exil, eventuell die Ausweisung, erschienen als Ersatz
für die Strafe. Die Oppositionspresse Europa’s gelangte schliesslich dazu,
das Asyl als ein Recht des Flüchtlings, nicht des Aufenthalts-Staates, auf-
zufassen. Für England war seit den Verträgen von 1794 und 1802 die Nicht-
Auslieferung als gesetzliche Regel anerkannt, damit politische Auslieferungen
unmöglich gemacht würden. — Das Verdienst, diesem Chaos den Weg zur
Ordnung gewiesen zu haben, gebührt, wie der Verfasser zum Schlusse hervor-
hebt, dem belgischen Staate, der aus seiner Neutralität zugleich die hohe
Mission zur Pflege der völkerrechtlichen Beziehungen des Friedensstandes
entnahm. Damit ist auf die spätere Besprechung des belgischen Auslieferungs-
gesetzes hingewiesen. Hoseus.
H. Dernburg, Lehrbuch des Preussischen Privatrechts und der
Privatrechtsnormen des Reichs, 4. Aufl, Bd. 1 und 2,
Halle. Verlag der Buchhg. des Waisenhauses. 1884, 1889.
DERNBUR@’s Preussisches Privatrecht hat sich, seitdem es vor nunmehr
zehn Jahren zum Abschlusse gelangt ist, als die vorzüglichste wissenschaft-
liche Bearbeitung des preussischen Rechts der allgemeinsten Anerkennung
bei Theoretikern und Praktikern zu erfreuen gehabt. Nichts liefert dafür
schon äusserlich einen besseren Beweis als die für ein juristisches Lehrbuch
überraschend schnelle Aufeinanderfolge neuer Auflagen, welche es anderer-
seits wieder ermöglicht, dass das Werk stets die neueste Judikatur und Lite-
ratur zu berücksichtigen vermag. Der Schwerpunkt des DERNBUR«@’schen
Buches liegt naturgemäss auf dem Gebiete des Privatrechts. Zu einer Be-