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Widerspruch steht, scheint der Verf. selbst einzusehen, indem er in
einer Anmerkung (p. 236) nebenbei bemerkt, dass man konsequenterweise
eigentlich anders argumentiren müsste! Diese andere Argumentation wäre
aber für ihn, wenn er sich selbst treu bleiben wollte, die einzig mögliche.
Sehr zutreffend sind die Ausführungen des Verf. über den Miss-
brauch, welcher mit dem Institut des Protektorats getrieben wird, ein Miss-
brauch, welchen die Erklärung der Berliner Konferenz direkt begünstigt
hat. Dadurch nämlich, dass sie das für die Okkupation proklamirte Erfor-
derniss der Effektivität der Herrschaft gegenüber dem sog. Protektorat
fallen liess, hat sie den Staaten einen bequemen Ausweg zur Umgehung
dieser unter Umständen lästigen Verpflichtung gezeigt und der fiktiven
Okkupation unter anderem Namen Thür und Thor geöffnet. Und die
Folgezeit hat gezeigt, welch’ ausgiebigen Gebrauch die Kolonialmächte
von dieser Möglichkeit gemacht haben. Von einer eigentlichen Okkupation
ist gar nicht mehr die Rede; es werden nur noch Protektorate übernommen,
auch wo von einem Staatswesen, das protegirt werden könnte, keine Spur
vorhanden ist, wie z. B. in Neu-Guinea. Ein ähnliches Mittel, die fiktive
Okkupation früherer Jahrhunderte im grössten Massstabe zu praktiziren,
bieten die in neuester Zeit so zahlreichen Verträge über die sog.
Abgrenzung der Interessensphären. Auch durch sie wird die Konkurrenz
anderer Mächte ausgeschlossen und einem ländergierigen Staate ein Gebiet
reservirt, zu dessen thatsächlicher effektiver Okkupation ihm zur Zeit die
Mittel oder der Wille fehlen. (Sehr gut Verf. p. 254).
Im 4. Kap. erörtert der Verf. einige Punkte, die zu besonderen
Schwierigkeiten Anlass geben, und zwar zunächst die Frage, inwieweit ein
Gebiet durch Dereliktion zur res nullius wird, wobei die Okkupation
Massaua’s durch die Italiener, allerdings in ziemlich oberflächlicher Weise,
behandelt, dagegen die gerade in dieser Beziehung so wichtige Karolinen-
frage kaum gestreift wird. Dass der Staat, welcher ein derelinquirtes
Gebiet okkupirt, die Gebietshoheit ausschliesslich auf Grund seiner
Okkupation und nicht vermittels einer traditio incertae personae erwirbt,
erscheint unzweifelhaft. Auch ist es entschieden irrig, wenn der Verf.
(p. 250/51) meint, dass auch bei Verwerfung der Idee einer traditio inc.
pers. doch eine von dem früheren Besitzer des Gebiets einem dritten
Staate eingeräumte Servitut, z. B. ein Durchzugsrecht, von der späteren
Okkupation unberührt bleibe, da man nur okkupiren könne was derelinquirt
und nur derelinquiren könne was besessen worden ist. Die Servitut kann
jedoch nicht selbständig fortbestehen, nachdem das Eigenthum bezw. die
Gebietshoheit erloschen ist. Die durch die nachfolgende Okkupation neu
begründete Souveränetät ist demnach eine unbeschränkte.
Unrichtig ist ferner vom Standpunkt des positiv geltenden Völkerrechts,
wenn der Verf. (p. 251) jedes Gebiet als okkupirbar betrachtet wissen
will, welches nur einer fiktiven Souveränetät oder einem Pseudo-Protektorat