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geht schon daraus hervor, dass eine der wichtigsten von ihr in ihrer ersten
am 7. und 8. August 1889 zu Brüssel abgehaltenen Jahresversammlung
aufgestellten Thesen: es empfehle sich, die durch das belgische Gesetz vom
31. Mai 1888 zur Anerkennung gebrachte „sog. bedingte Verurtheilung“
zur Einführung in die Strafgesetzgebung der übrigen Länder, jetzt in der
deutschen Presse Gegenstand erustester Diskussion geworden ist, so dass
die Frage, ob diese bedingte Verurtheilung auch durch die Gesetzgebung
des Deutschen Reiches zu verwirklichen, für's Erste von der Tagesordnung
der öffentlichen Besprechung nicht wieder verschwinden wird.
Bei dieser Bedeutung der „Vereinigung* dürfte es die Leser dieser
Zeitschrift vielleicht interessiren, die Ziele der Vereinigung, wie sie in dem
wichtigen Art. II der Satzungen niedergelegt sind, kennen zu lernen.
Der Art. II lautet:
„Die Vereinigung stellt als Grundlage ihrer Wirksamkeit die folgenden
Sätze auf:
l. Aufgabe der Strafe ist die Bekämpfung des Verbrechens als
sozialer Erscheinung.
2. Die Ergebnisse der anthropologischen und soziologischen Forschungen
siad daher von der Strafrechtswissenschaft wie von der Strafgesetzgebung zu
berücksichtigen.
3. Die Strafe ist eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung des Ver-
brechens. Sie ist aber nicht das einzige Mittel. Sie darf daher nicht aus
dem Zusammenhange mit den übrigen Mitteln zur Bekämpfung, insbesondere
mit den übrigen Mitteln zur Verhütung des Verbrechens, gerissen werden.
4. Die Unterscheidung der Gelegenheitsverbrecher und der Gewohnheits-
verbrecher ist von grundlegender Bedeutung in theoretischer, wie in prak-
tischer Beziehung, sie hat daher als Grundlage für die Bestimmungen der
Strafgesetzgebung zu dienen.
5. Da Strafrechtspfiege und Strafvollzug demselben Zwecke dienen,
das strafrichterliche Urtheil mithin erst durch die Vollstreckung der Strafe
Inhalt und Bedeutung gewinnt, erscheint die dem heutigen Strafrechte
eigenthümliche Trennung des Strafvollzuges von der Strafrechtspflege als
unrichtig und zweckwidrig.
6. Da die Freiheitsstrafe in unserem Strafsystem mit Recht die erste
Stelle einnimmt, wird die Vereinigung den Bestrebungen zur Verbesserung
der Gefängnisse und der verwandten Anstalten besondere Beachtung widmen.
7. Die Vereinigung hält jedoch den Ersatz der kurzzeitigen Freiheits-
strafe durch andere Strafmittel von gleicher Wirksamkeit für möglich und
wünschenswerth.
8. Bei langzeitigen Freiheitsstrafen ist die Bemessung der Strafdauer
nicht nur von den Ergebnissen des Strafverfahrens, sondern auch von den-
jenigen des Strafvollzuges abhängig zu machen.
9. Unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher hat die Strafgesetzgebung,