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Gebote der Rechtsordnung gründet. Denn die Befehle der Rechts-
ordnung wären gar nicht zwingend, wenn nicht hinter ihnen eine
souveräne Macht stünde, die sie eventuell durch physische Ueber-
macht durchsetzt. Diese Fähigkeit, einen für alle Unterthanen
verbindlichen Willen zu äussern, ist überhaupt kein Recht, son-
dern ein rein thatsächliches Verhältniss, und zwar von der Art, dass
die allgemeine Verbindlichkeit in der Unmöglichkeit besteht, sich
diesen Befehlen zu entziehen. Die Souveränität ist also kein
Recht, sondern ein Zustand. Es kann also die Frage, wer be-
sitzt die Souveränität in Bosnien und der Herzegowina, gar nicht
aus der Interpretation der Rechtsquellen beantwortet werden,
sondern nur aus der Prüfung der thatsächlichen Zustände.
Wenn man also behaupten wollte, die Souveränität über die
oceupirten Provinzen besitzt der Sultan, so könnte dies nur den
Sinn haben: Der Sultan hat daselbst die vis cogendi. Kraft und
vermöge dieser zwingt er die Unterthanen, den Befehlen des
Kaisers von Oesterreich zu gehorchen, welch’ letzterer den ma-
teriellen Inhalt der von der suprema potestas des Sultans durch-
zusetzenden Befehle bestimmt. Eine solche Construction stünde
aber offenbar in unmittelbarem Widerspruch zu den Thatsachen.
War es doch gerade der Mangel der vis cogendi des Sultans,
welche die Signatarmächte der Berliner Congress-Acte veranlasste,
diesen Wetterwinkel Europas unter die zwingende Gewalt der
österreichisch-ungarischen Monarchie zu stellen 5).” Wenn der
Sultan diese Provinzen „dem Schutze seines mächtigen Freundes,
5) Vgl. die Protokolle des Berliner Congresses. In der Sitzung vom
28. Juni 1878 sagte Lord Salisbury: A cet efiet il faudrait un Gouvernement,
qui eüt non seulement les moyens necessaires pour &tablir une bonne ad-
ministration, mais qui possedät €galement des forces assez pr&eponderantes
pour supprimer toute espöce de trouble. Der Vertreter Frankreich's sagte:
I considere lintervention du Gouvernement d’Autriche-Hongrie comme une
mesure de police europeenne. Vgl. auch die Reden des Grafen Andrassy
und des türkischen Bevollmächtigten, welcher darzuthun sich bemühte, dass
der Pforte die vis cogendi nicht abgehe.