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Um so bedeutsamer ist es, das Ziel scharf im Auge zu halten. Einer
anderen Methode muss dieses Ringen gelten, die der Rechtswissenschaft
die Einheit der Grundlage und der Forschung zurückbringe, Germanisten
und Romanisten vereinige und auch das öffentliche Recht in engeren Zu-
sammenhang mit den anderen Disciplinen stelle. Denn das sittliche und
wirthschaftliche Wohl des Volkes ist doch das gemeinsame Ziel: viel zu
einseitig ist das Princip des Civilrechtes bisher gefasst als gewillkürte Herr-
schaft des Einzelindividuums. Für das Recht gibt es keine einzelnen, son-
dern nur Glieder des Ganzen.
Bei solcher Lage der Dinge haben wir mit bereitem Entgegenkommen
das oben genannte Werk in die Hand genommen. Zumal da es Studien
völlig neuer Art in Aussicht stellt, welche die ganze Rechtslehre in ihren
Elementen ergründen und aus dem einen Gesichtspunkte als „science
Juridique pure“ (also vielleicht: „vom Standpunkte der reinen Vernunft“)
in ihren Theilen entwickeln will. — Die französische Jurisprudenz zeichnet
sich aus durch einen lebensfrischen, realistischen Zug: knapp, aufs äusserste
sicher bestimmt ist die Fassung der gerichtlichen Urtheile; in breiter Deut-
lichkeit, alles bis in’s kleinste behaglich und sachlich entwickelnd — man
denke an LAureEnT's bändereiche und doch nie ermüdende Werke — pflegen
die Lehrbücher und Commentare sich zu ergehen. Abstrakte, rechtsphilo-
sophische Arbeiten aber, wie sie uns so geläufig, pflegen dort fremd an-
zuklingen. Um so mehr besteht die Erwartung, dass die Lebenskraft der
übrigen Studien sich den abstracten construirenden Arbeiten fördernd mit-
theilen werde.
In vollem Umfange sind diese angeregten hohen Erwartungen in dem
vorliegenden Werke nicht erfüllt. Jedenfalls aber haben wir Ursache in dem
Verfasser einen ernstforschenden Juristen zu begrüssen, welcher in der
deutschen Litteratur gründlichst bewandert die Anregung, die er Ton,
IHERINe, ARNDTS u. a. dankt, weiterverpflanzen will; belehrend ist es, wie dort
auf immunem Boden die Art und Resultate deutscher Forschung sich er-
proben. — Die andere Behauptung aber: actuellement les juristes frangais et
allemands se dedaignent presque toujours r&ciproquement: ist zu dem für
Deutschland geltenden Theil entschieden zurückzuweisen. Französische
Rechtsprechung und Litteratur haben stets bei uns eine ernste und gerechte
Würdigung gefunden; und was unsere Gesetzgebung betrifft — es wäre
lohnend, hier die Geschichte einer zweiten Reception, der des französischen
Rechtes, zu schreiben !
Im näheren ist der Standpunkt des Verfassers folgender. Die Möglichkeit
einer „science juridique pure“ ergibt sich aus der Erwägung, dass gewisse Ele-
mente bei allen juristischen Vorgängen und Gestaltungen nothwendig vorhanden
sein müssen. Diese lassen sich nicht nur aus historischer Beobachtung und
nur aus Erfahrung gewinnen, Ebensowenig wie bei der „reinen Mathematik“
hängt bei der „rein vernünftigen Jurisprudenz“ die Richtigkeit der Resultate