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meint damit das Menschenindividuum als etwas um seiner selbst willen
Werthvolles. Aus dem Gefühle des Werthes desselben entspringt der Wille
gerichtet auf die moralische und intellectuelle Vervollkommnung desselben
einerseits und auf die individuelle Wohlfahrt desselben anderseits. Da die
Menschennatur durch Klima, Beschäftigung, Lebensverhältnisse u. s. w.
determinirt wird, so stellen sich auch die Ueberzeugungen und der darauf
beruhende Rechtswille je nach den Eigenthümlichkeiten eines Volkes als
verschieden determinirt dar. Daraus erklärt sich, dass der Rechtswille bei
verschiedenen Völkern verschieden, beim einzelnen Volke aber überein-
stimmend sich zu manifestiren vermag. Der Rechtswille zeigt sich ursprüng-
lich, d. h. reflexionslos bei jeder Gemeinschaft von Menschen. Das so ent-
stehende Recht ist „ursprüngliches Recht“ das noch ungeschrieben und
überhaupt höchst einfacher Natur ist. Dieser in unentwickelten Lebensverhält-
nissen sich zeigende Rechtswille ist auf specielle Handlungen und Unter-
lassungen gerichtet (specieller Rechtswille), hingegen sieht er noch keineswegs
Einrichtungen vor, welche seiner Realisirung dienlich sind; er ist deshalb
primärer Rechtswille. Die durch gemeinsame Eigenthümlichkeiten eines
Volkes determinirte übereinstimmende Ueberzeugung ist dasjenige, was
Savıany und PucHta „Volkswille* und „Volksüberzeugung“ nennen. Die
Uebereinstimmung ist dabei nicht im absoluten Sinne zu nehmen, ihr Begriff
verträgt das Dasein sowohl von Indifferenten als Zuwiderhandelnden. Ja, es
kommt nicht einmal darauf an, dass die Ueberzeugten die Majorität sind.
Wenn also in einem Volke mehrfache, einander widersprechende Ueber-
zeugungen vorhanden wären, so würden dieselben verschiedene Rechte be-
deuten. Der primäre Rechtswille reicht aber nur in den einfachsten Ver-
hältnissen aus; in der Folge erhebt sich der secundäre Rechtswille, d. i.
der Wille, dass Einrichtungen und Organe da seien, um den primären Rechts-
willen zu realisiren und dass auch alles dasjenige geschehe, was nöthig ist,
um diese Einrichtungen zu erhalten und nöthigenfalls verbessern zu können.
Dieser Wille führt zur Einrichtung einer Öentralgewalt, er verkörpert sich
in der Staatseinrichtung. Der Staat ist sonach die Verkörperung des objec-
tiven Rechtswillens; er, sowie alles gesetzte Recht hat seine Geltung nur
aus der Geltung jenes ursprünglichen Rechtes, aus welchem er und es
hervorgehen. Das gesetzte Recht entsteht allerdings nicht mehr durch die
übereinstimmende Ueberzeugung. Auf dieser beruht nur der generelle
Rechtswille; dieser will aber auch die zu seiner Realisirung nöthige Be-
stimmtheit und Gestaltung, implieite will er deshalb auch die weitere Durch-
führung, welche das Recht durch den Gesetzgeber erhält. Der Gesetzgeber
wird aus dem Grunde zu einem Organe des objectiven Rechtswillens, weil er
selbst Erzeugniss des ursprünglichen Rechtswillens ist. Der Geltungsgrund,
des aufgezwungenen Rechtes ist darin zu finden, dass die Vergewaltigten
allmählich sich daran gewöhnen und es dann, ihr altes Recht vergessend,
acceptiren. Zwang ist somit niemals Recht. Zwischen dem Geesetzesrecht