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Gesetz im wahren Sinn des Wortes, als eine für Jedermann ver-
bindliche Anordnung eines Rechtssatzes, ist vor der Verkündigung
nicht vorhanden. (Art. 2.) Auch ein früheres widersprechen-
des Gesetz ist erst vom Moment der Publication an ausser Kraft
gesetzt. Erst diese giebt dem Befehl die nach allen Seiten hin
wirkende Macht, erst diese schafft das Gesetz. Vorher war nur
ein Gesetzentwurf. Man darf also dem Betreffenden keinen Vor-
wurf machen, welcher dasjenige Organ der Verfassung, welchem
die Publication zusteht, also im Deutschen Reich den Kaiser, als
Gesetzgebungsorgan bezeichnet. Kommt doch erst durch die dem
Kaiser allein- zustehenden Acte der Ausfertigung und Verkündi-
gung ein wirkliches Gesetz zu Stande.
Allein, wie stimmt hiermit der Abs. 1 des Art. 5, welcher
in unzweideutigen Worten dadurch, dass er die Reichsgesetz-
schung ausschliesslich dem Bundesrath und Reichstag beilegt, den
Kaiser von ihr ausschliesst ?
Es wird darauf ankommen, den Sinn, welchen das Wort
„Gesetzgebung“ im Art. 5 hat, zu erkennen.
In dieser Beziehung meint FRicKEr: Der zu Grunde liegende
(Gedanke ist, dass das Recht der Stände nicht über die Feststel-
lung des Gesetzinhalts hinausreicht. Die Eigenthümlichkeit der
Gesetzgebung liege in der Mitwirkung der Stände, und nun werde
eben dasjenige Stadium, in welchem dieses Specifikum der Gesetz-
gebung seine Stelle hat, allein als Gesetzgebung aufgefasst.
Ich widerspreche dieser Ansicht aus einem Grunde, welcher
näher erst unten dargelegt werden soll; ich halte es nämlich für
unrichtig, die Mitwirkung des Reichstags an dem Zustandekommen
der Reichsgesetze auf die Arbeit zwecks Feststellung des Gesetzes-
inhaltes beschränken zu wollen. Meine Ansicht über die aufge-
worfene Frage ist vielmehr diese. Nur derjenige ist in Wahrheit
als „Gesetzgeber“ zu bezeichnen, dessen Theilnahme an der Ge-
setzgebung eine selbständige, unabhängige ist. Diese Unabhängig-
keit äussert sich vor Allem darin, dass das Ja zu einem Gesetz-
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