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scheint in normalen Verhältnissen die auf Forterhaltung des Be-
stehenden gerichtete Tendenz mehr mit dem Gesammtwillen zu
harmoniren und mehr pflichtgemäss zu sein als Veränderungs-
tendenzen, denen sich leicht die Vermuthung eines engeren oder
weiteren Egoismus entgegenstellt. In concreto kann ja Beides
richtig sein; an sich aber ist es falsch, denn das Bestehende kann
schon seiner Entstehung nach eine gelungene egoistische That
sein; und, wenn nicht, so kann es doch im Laufe der Entwick-
lung egoistisch werden. Da es für die Ordnung der Gesellschaft
kein dem geschichtlichen Auge erkennbares Urbestehendes gibt,
so ist für die geschichtliche Erkenntniss Alles Product einer Ver-
änderungstendenz, die also an sich ebenso einen Gesammtbedürfniss
entsprechen, wie egoistisch sein kann.
Aber es bleibt dabei: keine Veränderung ohne Fortbestand
und umgekehrt; Erhalten und Verbessern!
Dies hat übrigens für die Leitung des Gesammtwesens und
folglich auch für die Volksvertretung eine sehr grosse Bedeutung.
Die Volksvertretung muss nämlich so geordnet sein, dass die Er-
haltungstendenz wie die Veränderungspolitik selbständig vertreten
und keine von beiden durch die Majorität der anderen wirkungs-
los gemacht werden. (Der tiefste Grund des Zweikammersystems
und die einzige solide, berechtigte Basis einer politischen Partei-
bildung, welche dem Liberalismus es entsprechend findet, noch
Lebensvolles zu erhalten und conservativ auch das Aufgeben des
Abgestorbenen nennt.) Was aber die eigentliche Leitung des
Gesammtwesens angeht, so kann es sich nicht bloss um die Lei-
tung der Verhandlungen über Veränderungen — welche, wenn sie
mit der Annahme des Veränderungsgedankens endigen, die Leitung
des bisher Bestandenen entlasten aber auch gleich wieder neu
belasten — handeln, sondern auch das Fortbestehende muss ge-
leitet werden. Die Veränderungen fügen sich sofort dem Be-
stehenden ein und die Leitung des Bestandes fährt nur mit einer
etwas veränderten Aufgabe und unter möglicherweise veränderten