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besteht); Gnade zu spenden ist ein Vorrecht des Herrn;
„gnädig* ein Attribut des letzteren.
Der Sache nach hat die Gnade allerdings auch in privat-
rechtlichen Verhältnissen ein weitreichendes Anwendungsgebiet;
auch hier herrscht nicht das Recht ausschliesslich, sondern findet
seine Ergänzung und Milderung in Handlungen, die man als
Liberalität oder Freigebigkeit bezeichnet. Sie sind nicht be-
schränkt auf die Rechtsform der Schenkung, sondern können
auch in einem negativen Verhalten, in der Nichtgeltendmachung
rechtsbegründeter Ansprüche bestehen; ja die letztere Form ist
praktisch die ungleich wichtigere. Gnadenakte und Freigebigkeits-
akte haben daher gewisse gemeinsame Merkmale, insbeson-
dere zwei. Zunächst, dass sie niemals auf Kosten oder zum
Schaden Dritter erfolgen dürfen; wo das Recht eines Dritten
beginnt, findet das Recht zur Gnade und zur Freigebigkeit seine
Schranke. Ferner, dass es keine Regeln giebt über die Voraus-
setzungen und das Mass der Spende; in jedem einzelnen Falle
entscheidet das freie individuelle Ermessen des Spenders, ob und
in welchem Masse statt des Rechts Gnade und Freigebigkeit
eintreten soll. Dem Recht steht einerseits die Gnade, anderer-
seits der Nothstand gegenüber und dem Satz „Noth kennt kein
Gebot“ entspricht der Satz, dass Gnade frei waltet. Insoweit
das Recht Handlungen oder Unterlassungen vorschreibt, durch‘
welche Jemandem Vortheile auf Kosten eines Andern zugewendet
werden, ist der Begriff der Gnade oder Freigebigkeit unanwend-
bar. Gnade und Freigebigkeit können erst da anfangen, wo die
Rechtspflicht aufhört.
Eine feste Grenze zwischen Gnade und Freigebigkeit ist
nicht zu ziehen, so wenig wie das öffentliche Recht und das
Privatrecht völlig von einander getrennt sind. So lange es Privat-
herrschaftsverhältnisse gab, bestand selbstverständlich auch ein
!) Vgl. Jo£t in Hirth’s Annalen 1888, S. 808,