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begnadigte Verbrecher von der Beobachtung der im Strafgesetz-
buch enthaltenen Rechtsvorschriften „dispensirt“?
In der neueren Litteratur besteht, bis auf ganz vereinzelte
Ausnahmen, darüber Einverständniss, dass die Begnadigung kein
das objektive Strafrecht abändernder Akt, also überhaupt kein
Akt der Gesetzgebung, keine lex specialis ist!”). Wäre die Be-
gnadigung ein Akt der Gesetzgebung, eine Ausübung des Dis-
pensationsrechts, so hätte mit der Einführung des Reichsstrafgesetz-
buches und der Reichsstrafprozessordnung das Begnadigungsrecht
aller deutschen Landesherren erlöschen müssen und auch die aus-
drückliche Anerkennung desselben in den Verfassungsurkunden
der Einzelstaaten hätte diese Folge nicht abwenden können. Denn
das Reichsrecht geht dem Laandesrecht vor und kann durch einen
Akt der Landesgesetzgebung auch im einzelnen Falle nicht ausser
Kraft gesetzt werden'®). Bekanntlich besteht aber in allen deut-
schen Staaten das Begnadigungsrecht der Landesherren (und
Senate) in unangefochtener Geltung und weder die Gerichte und
Staatsanwaltschaften haben jemals das geringste Bedenken ge-
tragen, landesherrliche Begnadigungsakte zu respektiren, noch hat
irgend ein Organ des Reichs sich veranlasst gesehen, die Geltung
der Reichsgesetze und die Machtbefugnisse des Reichs dem landes-
herrlichen Begnadigungsrecht gegenüber zu wahren. In Wirklich-
keit wird auch die Rechtsordnung als solche von der Begnadigung
nicht betroffen, sondern nur eine bestimmte Wirkung, welche kraft
der Rechtsordnung an einen Thatbestand geknüpft wird, im ein-
zelnen Falle durch einen Akt der Staatsgewalt aufgehoben. Das
Wesen der Begnadigung in Strafsachen habe ich in meinem
Staatsrecht des deutschen Reichs a. a. O. S. 483 ff. in der Art
zu bestimmen versucht, dass sie ein ausserordentlicher, im Ver-
fassungsrecht zwar zugelassener, aber im Strafprozessrecht nicht
) Vgl. die Ausführungen und Litteraturangaben in meinem Staatsr.
des deutschen Reiches (2. Aufl.) Bd. II, S. 479 ft.
18) Reichsstaatsr. a. a. O. S. 480.