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gesetzwidrig zu handeln; aber er kann in einer, ihm vorbehal-
tenen Sphäre staatlichen Wollens, bis zu welcher die erwähnten
Funktionen nicht hinanreichen, innerhalb der aus dem Begriff der
Gnade selbst sich ergebenden Schranken der Gunsterweisung ohne
Verletzung der Rechte Dritter, die suprema potestas des Staates
ausüben. Wenn daher Art. 62 der Preuss. Verf.-Urk. Regeln
über die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt aufstellt, so lassen
dieselben das Gebiet der königlichen Gnade ebenso unberührt,
wie der im Art. 2 der Reichsverfassung sanktionirte Vorrang der
Reichsgesetze vor den Landesgesetzen das Begnadigungsrecht der
Landesherren in dem reichsgesetzlich geregelten Gebiete der Straf-
rechtspflege. Denn diese Rechtsregeln über die Gesetzgebung
können nicht ein Gebiet betreffen, welches ausserhalb der Gesetz-
gebung liegt. Die Gnade ist gesetzesfreies Gebiet !?),
19) In der älteren Litteratur werden das Dispensationsrecht, das Recht
zur Ertheilung von Privilegien und das Gnadenrecht völlig mit einander ver-
wechselt und verwirrt. Man sehe in dieser Hinsicht nur die oben eitirte
Schrift von Moser an. Aehnlich noch KLüBEr, Oeffentl. R. $ 483 ff. Zur
Zeit der absoluten Monarchie war auch ein Bedürfniss zur Unterscheidung
dieser Begriffe nicht vorhanden, da in der Machtvollkommenheit des Monarchen
alle diese Rechte enthalten waren. Diese Vermengung setzte sich aber in
die Litteratur des konstitutionellen Staatsrechts fort und tritt nament-
lich in den oft eitirten Ausführungen von Monn's Staatser. v. Württemb. ],
S. 209 ff. entgegen, der vom Dispensationsrecht spricht und das Gnadenrecht
meint. Auf ihn sind die Ausführungen anderer Staatsrechtsschriftsteller zu-
rückzuführen, so z. B. ZacHarıä, Staatsr. II, S. 184 ff.; Weiss, D. Staatsr.
$ 314; ZÖPFL, Staatsr. II $ 481. Erst v. GERBER hat in seiner schönen Ab-
handlung über Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt (Tübinger Zeitschr.
f. die ges. Staatswissensch. 1871, S. 430 ff.) dargethan, dass sich das Dis-
pensationsrecht mit dem Prinzip der formellen Gesetzeskraft nicht ver-
trägt. Dies hat mit Recht allgemeine Zustimmung gefunden; man darf aber
nicht, wie es in der neuesten Litteratur üblich ist, nun auch das Gnaden-
recht für ausgeschlossen erklären, indem man es in der hergebrachten Art
mit dem Dispensationsrecht zusammenwirft. Privilegien und Dispensationen
greifen in das objektive Recht ein, Gnadenakte nicht. — Was insbesondere
die Gnadenerlasse von Steuern anlangt, so werden sie dem Dispensations-
recht untergeordnet von v. RönNnE (4. Aufl.) IV, S. 744; BoRNHAR a. a. O.
S. 819; G. MEveEr a. a. O. S. 339, Richter, Stenogr. Berichte des Abg.-