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Andererseits ist aber die Gnade keine Verletzung der Ge-
setze; auch das Recht zur Gnade ist verfassungsmässig begründet;
die Rechtsordnung im weiteren Sinne umfasst auch das Recht
der Gnade und alle Gesetze werden, insofern überhaupt die von
ihnen normirten Lebensverhältnisse der Bethätigung der Gnade
zugänglich sind, von dem Gnadenrecht der Krone umgeben und
ergänzt. Wenn man also zugiebt, dass der König von Preussen
nach den richtig verstandenen Grundsätzen der Verfassung das
Gnadenrecht in Finanzsachen hat, so werden auch alle Steuer-
gesetze mit der stillschweigenden und selbstverständlichen General-
klausel „vorbehaltlich königlicher Gnadenakte“ erlassen. Als-
dann sind aber die Gnadenakte von den Gesetzen zugelassen,
folglich keine Abweichungen von den Gesetzen und daher
auch nicht von der Oberrechnungskammer zu moniren und dem
Landtage zur Kenntniss zu bringen.
Die Entscheidung der Frage hängt also lediglich davon ab,
wie die in Rede stehenden Worte des $ 18 Ziff. 2 zu inter-
pretiren sind, d.h. welchen Sinn der Gesetzgeber mit dem Ausdruck:
„Abweichungen von den Bestimmungen der Gesetze“ verbunden
hat. Darüber giebt die Entstehungsgeschichte dieser Gesetzes-
vorschrift klare Auskunft.
Der Grundsatz, dass die Oberrechnungskammer nicht bloss
die Etatsmässigkeit, sondern auch die Gresetzmässigkeit aller Ver-
waltungen zu prüfen habe, ist lange vor dem Gesetz von 1872
im preussischen Recht zur Geltung gelangt. Von älteren Zeug-
nissen abgesehen, spricht ihn die Instruktion vom 18. Dezember
1824 8 1 Ziff. a; 8 3, $ 5 Abs. 1 mit Nachdruck aus. Selbst-
verständlich konnte aber die Oberrechnungskammer vor Einführung
der Verf.-Urk. nicht die Aufgabe haben, Abweichungen von den
gesetzlichen Vorschriften zu rügen, welche auf speziellen Befehl
oder mit spezieller Genehmigung des Königs ergangen waren.
Solche Abweichungen waren durch die königliche Ordre „justifizirt“
und nur soweit es an der königlichen Genehmigung fehlte, hatte die