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nicht erst dann beginnt, wenn das andere Schiff mit seinen Man-
övern beginnt, sondern von dem Augenblicke an besteht, wo die
Voraussetzungen des Art. 14ff. vorliegen. Die Pflicht zum Aus-
weichen und die Pflicht zum Kurshalten sind die für beide Be-
theiligte gleichmässig eintretenden rechtlichen Folgen desselben
Thatbestandes. Daher besteht auch umgekehrt kein Anspruch
darauf, dass der Gegensegler die Richtung seiner Fahrt nicht ver-
ändere, so lange überhaupt nicht Gefahr des Zusammenstosses
besteht, selbst wenn durch diese Aenderung für das andere Schiff
nunmehr die Verbindlichkeit zum Ausweichen begründet wird ?®).
Um so weniger kann eine Verletzung des Art. 22 in den Fällen
angenommen werden, wo das Ausweichen von der bisher ein-
gehaltenen Richtung wegen ordnungsmässiger, durch die Verhält-
nisse gebotener Massregeln erfolgt, z. B. bei den zum Kreuzen
nothwendigen Wendungen des Halsens oder Ueberstaggehens.
Diese kann auch der Gegner als möglicher Weise bevorstehend
erkennen und muss sie desshalb bei seinem eigenen Verhalten
von vorne herein berücksichtigen ??).. Im Uebrigen bezieht sich
unsere Vorschrift auf alle früher besprochenen Möglichkeiten,
welche eine Verpflichtung zum Ausweichen mit sich führen, und
gilt insbesondere auch für überholte Schiffe. Man wird sogar so-
weit gehen können, sie auch dann anzuwenden, wenn zwei Schiffe
hinter einander herfahren, ohne dass das zurückstehende sich dem
vorderen nähert”). Allerdings passt der Wortlaut des Art. 22
unter dieser Voraussetzung nicht, weil das hintere Fahrzeug nicht
aus dem Wege zu gehen hat. Aber durch die Veränderung seiner
Fahrt kann das vordere seinerseits eine Annäherung des Gegners
bewirken und somit die Bedingung des Art. 20 zur Entstehung
bringen. Dies darf aber doch gewiss nicht in einer Weise ge-
schehen, welche zugleich dem Gegner die Erfüllung seiner Ver-
28) Eintscheid. d. Reichsgerichts in Civilsachen 10, S. 11ff.
22) Entscheid. d. Ober-Seeamts IV, N. 120,
°) Ebenda IV, N. 18.