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seiner Anordnungen verzichtet also das Gesetz und erkennt an,
dass das angestrebte Ziel, die Vermeidung von Zusammenstössen,
unter Umständen auf den von ihm bezeichneten Wegen nicht
erreicht wird. Alsdann soll der Schiffsführer die im vorliegenden
besonderen Falle erforderlichen Massregeln selbst bestimmen und
so durch Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen die Vor-
schriften der Verordnung für den vorliegenden Fall ergänzen.
Die Befugniss hierzu ist ihm aber nur dann gegeben, wenn dies
zur Abwendung unmittelbarer Gefahr nothwendig ist, nicht schon
dann, wenn ein anderes Verfahren, als der (esetzgeber verlangt,
den Umständen nach zweckmässiger oder auch nur ebenso zweck-
mässig wäre. Es muss vielmehr eine unmittelbare, schon gegen-
wärtige Gefahr, welche durch Befolgung der Bestimmungen des
(sesetzes sich nicht abwenden lässt, vorliegen. Zunächst muss
also immer untersucht werden, ob nicht ein den Vorschriften der
Verordnung entsprechendes Verhalten zum Ziele führt. Der
Hauptfall, welcher hier in Frage kommt, ist der, dass ein Dampf-
schiff bei Nacht, im Nebel u. s. w., ohne es zu bemerken, einem
anderen Schiffe sich in so gefahrdrohender Weise genähert hat,
dass im nächsten Augenblick ein Zusammenstoss zu befürchten
ist. An sich soll ja in solchem Falle nach Art. 18 gestoppt und
rückwärts gegangen werden. Da aber hierdurch die Vorwärts-
bewegung des Schiffes nicht sofort aufgehoben und andrerseits
das Ausweichen gerade erschwert wird, so erscheint nach Art. 23
der Versuch gestattet, durch Beibehaltung der bisherigen Fahr-
geschwindigkeit den Zusammenstoss zu vermeiden. Lässt sich
mit Sicherheit annehmen, dass dieser Erfolg erreicht werden
wird, so ist unzweifelhaft eine Abweichung von Art. 18 zulässig.
Aber in sehr vielen Fällen lässt sich eben der Ausgang nicht
mit Sicherheit voraussehen, und es ist alsdann in Betracht zu
ziehen, dass die Fortsetzung der Fahrt mit unverminderter Ge-
schwindigkeit bei einem eintretenden Zusammenstosse viel ver-
derblichere Wirkungen erzeugt, namentlich wenn es sich um zwei
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