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Soviel ist allerdings richtig, dass, wenn der Nachweis ge-
lingt, dass das Reich ein eigenes, von dem der Einzelstaaten
verschiedenes Herrschaftsrecht besitzt, damit der Grundstein aus
der Theorie der Staatensouveränetät und des Vertragscharakters
der Reichsverfassung herausgerissen ist und das ganze Gebäude
in sich zusammenstürzen muss. Dieser Nachweis soll hier ver-
sucht werden ohne Zuhilfenahme der thatsächlich nicht vorhandenen
sogenannten Competenz-Competenz des Reiches.
1. Zunächst fällt der Sprachgebrauch der Reichsverfassung
ins Gewicht. Der ganze Inhalt derselben lässt sich kurz darauf
zurückführen, dass sie die Rechte des Reiches und seiner Organe
gegenüber denen der Einzelstaaten abgrenzt, während bei einer
Negierung der staatlichen Persönlichkeit des Reiches nur der
Gegensatz der gemeinsam und der von jedem Staate besonders
auszuübenden Hoheitsrechte vorhanden sein könnte. Die Reichs-
verfassung befolgt nun allgemein den Sprachgebrauch, die Rechte
des Reiches denen der Einzelstaaten gegenüberzustellen und das
Reich als Träger eigener staatlicher Herrschaftsbefugnisse zu be-
handeln. Sie spricht von dem Rechte des Reiches zur Gesetz-
gebung (Art. 2, 4) und Beaufsichtigung (Art. 4), von der Oompetenz
des Reiches (Art. 23), seinem ausschliesslichen Gesetzgebungsrechte
(Art. 35), seiner Befugniss zur Eisenbahntarifcontrolle (Art. 45),
seinen Rechten gegenüber Bayern und Württemberg auf dem
(sebiete des Eisenbahnwesens bezw. der Post und Telegraphie
(Art. 46, 52), letztere sind einheitliche Staatsverkehrsanstalten
des Reiches (Art. 48), auch Kriegsmarine, Handelsflotte und Heer
sind nicht gemeinsam, sondern einheitlich (Art. 53, 54, 63). Nur
vereinzelt taucht daneben der Ausdruck „gemeinschaftliche Ge-
setzgebung“ auf (Art. 36, 37). Auch von „gemeinschaftlichen
Einnahmen und Ausgaben“ ist ein Paar Mal die Rede (Art. 49,
70, 71). Letzterer Ausdruck fällt aber um so weniger ins Ge-
wicht, als das Reich vermögensrechtlich zweifellos nicht Societät,
sondern eine selbständige, im Reichsfiscus verkörperte Rechts-