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Dies Strafrecht entwickelt sich gleichmässig mit dem Recht
überhaupt; es steht in frühester Zeit dem Familienhaupte zu;
dann, wie sich aus der Familie die gens, aus dieser die Völker-
schaft herausbildet, und wie diese zur sesshaften Gemeinde und
zum Staat wird, erwächst aus dem Familienstrafrecht im Lauf der
Geschichte in stufenweis fortschreitenden Perioden das Strafrecht
des Staates. Der Schluss der Entwicklung ist der, dass alleiniger
Inhaber sämmtlicher Strafrechte der Staat ist, und dass andere
Strafrechte nur soweit bestehen, als sie vom Staat anerkannt
oder geschaffen sind.
Aber bis der Staatsgedanke diesen Sieg errungen, war ein
Jahrhunderte dauernder Kampf nothwendig; und auch so ist
dieser Sieg kein vollständiger. Wie neben und unter dem Staat
Familie und Gesellschaft bestehen blieb, so neben und unter
dem staatlichen Strafrecht das Strafrecht der Familie und der
(esellschaft, das desshalb nicht weniger Strafrecht bleibt, weil es
durch das staatliche Strafrecht zurückgedrängt und in seinen
Strafmitteln eingeengt wurde; der Unterschied ist nur der, dass
es sich aus originärem in derivatives Strafrecht verwandelt hat.
Dieser ganze Gang der geschichtlichen Entwicklung wird von
denjenigen Rechtslehrern ignorirt, welche als Strafe im Rechts-
sinn nur die staatliche Strafe ansehen, und das ganze übrige
Strafrecht vom Begriff der Strafe ausscheiden ®). Ihnen gegen-
über ist mit aller Energie daran festzuhalten, dass der Begrift
der Strafe im Rechtssinn nicht nur das staatliche, sondern auch
das gesammte ausserstaatliche Strafrecht umfasst, soweit natürlich
dieses vom Staate anerkannt ist. Desshalb gehört das sogenannte
keit voraus. Dies gilt auch für die Verwirkung. Auch sie ist Strafe. Die
menschliche Thätigkeit folgt hier nur nicht, wie sonst der That nach, son-
dern geht ihr voraus, indem im vornherein festgesetzt wird, dass eine gewisse
Handlung als nothwendige Folge eine bestimmte Rechtsveränderung nach
sich ziehen soll.
15) So Binping im Grundriss I, S.108, und im Handbuch I, S. 276.