Full text: Archiv für öffentliches Recht.Siebenter Band. (7)

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frei zu wählen, ist ohnediess nicht die Rede, wer seine Stellung 
zu verlieren fürchtet, wenn er seine Stimme ım Widerspruch mit 
seinem Gewalthaber abgiebt, der kann sich der Abstimmung ent- 
halten, das Wählen ist keine Rechtspflicht, und wegen Nicht- 
wählens wird kein Principal seinen Angestellten entlassen. Aber 
selbst bei einer dem Greschäftsherrn missliebigen Abstimmung 
wird der Wähler in unserer Zeit wenig Gefahr laufen: die Rück- 
sicht auf den eigenen Nutzen hält den Fabrikanten u. s. w. ab, 
dem tüchtigen Arbeiter aus politischen Gründen zu kündigen, und 
wenn dem Handwerker wegen seiner Abstimmung der Kunde A 
die Bestellungen entzieht, so wird er dafür die Kundschaft des B 
‚erhalten. Ein Mann von fester politischer Ueberzeugung wird 
denn auch immer gleich wählen, mag die Abstimmung offen oder 
geheim sein; die geheime Abstimmung hat wesentlich nur Be- 
deutung für die Masse der charakterlosen ungebildeten Wähler’). 
Nicht darum ist es den Vertheidigern des geheimen Stimmrechts 
zu thun, dass der (ungebildete) Wähler für seine Abstimmung 
keinem Andern verantwortlich sei, der Werth der Heimlichkeit 
liegt ganz wo anders: der Wähler soll in der Lage sein, so zu 
  
®) Als in den 30er Jahren der württembergische Landtag wegen seines 
Widerstandes gegen die Beschlüsse des deutschen Bundes gegen die Press- 
freiheit aufgelöst wurde, bot die Regierung Alles auf, um die Wiederwahl 
des Führers des Widerstands, des Abgeordneten der ‚guten Stadt‘ Tübingen, 
meines Oheims Paul Pfizer, zu hintertreiben. Die Wahlen erfolgten damals 
durch offene Uebergabe eines vom Wähler unterzeichneten Stimmzettels. Die 
wahlberechtigten Tübinger Bürger waren zum kleinsten Theil in der Lage, 
im Leben auf Niemand Rücksicht nehmen zu müssen, aber sie waren ent- 
schlossen, an ihrem Abgeordneten festzuhalten. Wäre jeder Wähler einzeln 
vor dem die Wahl leitenden Regierungsbeamten erschienen, so wäre vielleicht 
mancher in seinem Entschluss wankend geworden. Aber Einigkeit macht 
stark: am Wahltag versammelten sich sämmtliche liberale Wahlmänner zu 
verabredeter Stunde in festlicher Kleidung auf dem Marktplatz, zogen in 
guter Ordnung aufs Rathhaus und wählten Mann für Mann den Mann ihres 
Vertrauens. — Es darf uns nicht wundern, wenn Wähler und Gewählte des 
beschränkten, offenen Stimmrechts damals in höherem Ansehen standen, als 
heute die Wähler und Gewählten des allgemeinen geheimen Stimmrechts.
	        
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