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allgemeinen Moral ist, die Volksmoral überhaupt: die Entscheidung
des Rechtstreits erfolgt hier zwar nicht immer, aber sehr oft
nicht nach Gründen des Rechts, sondern nach Gründen der Zweck-
mässigkeit, nach Rücksichten der Parteipolitik. Das ist in jedem
einzelnen Fall bedauerlich und verwerflich, ist aber auch ein all-
gemeines Unglück; denn wenn es mit Händen zu greifen ist, dass
eines der obersten Organe des Reichs — zu einem Akt der Recht-
sprechung berufen — nicht nach Recht und Gesetz, sondern nach
Politik und Willkür urteilt, ist es dann zu verwundern, wenn
andere Gerichtstellen, zumal Verwaltungs- und Strafgerichte, bei
ihren Entscheidungen auch andern als rechtlichen Erwägungen
Gehör geben? Exempta trahunt! Nachweisbar sind solche un-
lautere Einflüsse freilich kaum je, aber darum darf man ihr ver-
derbliches Dasein nıcht läugnen.
Ueberträgt man einer politischen Körperschaft einen Richter-
spruch, so ist es fast unvermeidlich, dass der Spruch durch die
Politik beeinflusst wird. — Die Entscheidungen, um die es sich
in unserer Frage handelt, sind teils solche des formellen, teils
solche des materiellen Rechts. Um formelles Recht handelt es
sich, wenn eine Wahl wegen des Verstosses gegen die Vor-
schriften des Wahlgesetzes (über Wahlkreise, Wahlzettel u. dgl.)
angefochten wird; hier sind für das Urteil Formvorschriften mass-
gebend, die — als solche — nach ihrem Wortlaut angewendet
werden müssen, Zweifel über ihre Auslegung sind selten möglich,
eine Bestimmung des Urteils durch Parteirücksichten ist daher
beim geringsten Mass von Gewissenhaftigkeit in der Person der
Richter-Abgeordneten ausgeschlossen. Ganz anders, wenn es sich
um Fragen des materiellen Rechts, wenn es sich darum handelt,
ob eine Wahl wegen ungesetzlicher Beeinflussung von Wählern
der Anfechtung unterliege. Jeder Wähler soll nach seiner freien
Ueberzeugung abstimmen und — das wird man als den Willen
des Gesetzes bezeichnen dürfen — jede unfrei abgegebene Stimme
ist ungültig; aber wann ist eine Stimme unfrei abgegeben? Doch